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: Streit muss sein

Für fleißige Politiker, die jahrein, jahraus die immer schwieriger werdenden Fragen der europäischen Integration zu lösen versuchen, mag die jetzige Aufregung um die Spaltung der EU ein Déjà-vu-Erlebnis sein. Für die demokratische Fortentwicklung der Union aber ist sie entscheidend. Denn nur in Momenten großer Krisen wird Europa zu einem Thema, das die europäische Öffentlichkeit wirklich beschäftigt.

Kommentarvon SABINE HERRE

Nur dann, wenn klare Alternativen für die weitere Entwicklung der ansonsten so schwer durchschaubaren EU auf dem Tisch liegen, wird über die Union gestritten. Daher müssen nicht nur die osteuropäischen Bürger und Politiker, sondern ganz Europa Jacques Chirac dankbar sein. Indem Frankreichs Präsident versuchte, künftige Mitglieder zum Schweigen zu verdonnern, hat er sie erst richtig wachgerüttelt.

Nach ermüdenden Beitrittsverhandlungen waren die Neuen aus Osteuropa bisher vollauf damit beschäftigt, ihre Beitrittsreferenden erfolgreich über die Bühne zu bringen. Die Tatsache, dass sie einer EU beitreten werden, die mit ihrer neuen Verfassung ganz anders aussehen wird als die jetzige, war an den Rand gerückt. Und damit auch die Tatsache, dass Mitglieder in spe bei der Entscheidung über diese neue Union nicht die gleichen Rechte haben wie Altmitglieder.

Indem die Osteuropäer jetzt volles Stimmrecht im Konvent fordern, zeigen sie nicht nur dem Präsidenten der Grande Nation, was eine Harke ist. Sie durchkreuzen gleichzeitig auch die Strategie der Föderalisten, die ganz froh waren, dass die Neuen den ohnehin schon schwierigen Verfassungsprozess nicht noch weiter erschweren konnten.

Jetzt, ein Jahr nach Beginn der Beratungen, durchlebt der Konvent seine erste große Krise. Nicht nur die Forderung der Osteuropäer nach voller Beteiligung sowie gut tausend Änderungsanträge, die zu den ersten 16 Verfassungsartikeln eingebracht wurden, lassen eine Verlängerung der Beratungen über den Juni hinaus nötig erscheinen. Hinzu kommt, dass bisher die europäische Öffentlichkeit wenig Anteil an der Erarbeitung der EU-Verfassung nahm; die Frage, ob die Bürger Europas in Volksabstimmungen über diese entscheiden dürfen, wurde nicht mal ansatzweise diskutiert. Das wird sich nun ändern. Wenn die Osteuropäer ihre Vorstellungen über die künftige Entwicklung der EU deutlicher formulieren, wird der Streit im Konvent schärfer werden. Und endlich auch die Öffentlichkeit erreichen. Noch einmal: Chirac sei Dank.

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