„Wir brauchen mehr Stimmung“

Rund 400.000 sollen auf der Straße gewesen sein. Beim Karneval in Berlin. Die Zuschauer – kaum jemand ist verkleidet – bücken sich die meiste Zeit hastig nach Bonbons. „Hier in Berlin sagt man heijo“, belehrt ein Narr vom Wagen herab

von PHILIPP GESSLER

Karneval in Berlin.

Tja.

„Hände hoch, verdammt noch mal, nicht so müde!“, ruft ein Animateur des Wagens von „Tollhaus – das Party Haus“. 13.05 Uhr am Brandenburger Tor. Gleich soll sich der Karnevalszug in Bewegung setzten. Ein Gorilla will einer alten Dame einen Flyer geben. Sie dreht sich verärgert weg.

„Wasn los hier“, ruft der Animateur, „wir brauchen ein bisschen mehr Stimmung hier um den Wagen!“ Ein Mädchen in einem Kinderwagen hält sich die Ohren zu. „Denkt daran, es gibt tolle Preise.“ Am Rande des Platzes des 18. März steht der Kleinbus des Berliner Prinzenpaars 2002/2003, Hans III. und Jutta I. „Jetzt erhöhen wir den Schwierigkeitsgrad: Alle auf einem Bein stehen. Alle auf keinem.“ Das Prinzenpaar küsst sich mehrmals für die Fotografen und steigt in einen Leiterwagen. 13.11 Uhr. Karnevalsfunktionäre, die ihn ziehen, rufen „Berlin, heijo!“. Es klingt wie „he-jau“. Niemand stimmt ein.

Die Plastikfolie um den Pappkameraden vorn am Leiterwagen wird entfernt. Es ist Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) in Sportkleidung. „Der fehlt ma noch, ach du lieber Gott!“, sagt jemand. Der Leiterwagen rollt Richtung Tor, auch der Zug setzt sich in Bewegung, biegt aber vor dem Tor in Richtung Reichstag ab. „Who is this on this picture there?“, fragt eine Touristin. „It’s the minister for …“, ihr Begleiter sucht das Wort. Da ist der Pressesprecher des Berliner Carneval-Vereins und Exsenatssprecher Helmut Lölhöffel. Sein Gesicht ist ernst.

Der Wagen des Carneval-Vereins rollt an den Kreuzen der Mauertoten vorbei. Aus ihm dröhnt: „Karneval ist ein Wort, das jedem, der fröhlich ist, gefällt.“ Die Zuschauer – kaum jemand ist verkleidet – bücken sich die meiste Zeit hastig nach Bonbons, die auf den Asphalt prasseln. Es folgen der Wagen von Galeria Kaufhof und der des Friedrichstadt-Palasts: „Hakt euch ein, macht ein bisschen mit. Schließlich ist Karneval in Berlin!“, ruft ein Narr ins Mikrofon. Niemand hakt sich ein. Ein Spielmannszug wurde komplett mit Trikots von „Dr.-Richard-Hermann-Reisen“ eingekleidet. „Hier in Berlin sagt man ‚heijo‘ “, belehrt ein Narr vom Wagen herab.

Die „Narrenkappe Berlin“ wurde von „Holz Possling“ und der BVG gesponsert. Der Zug steht aus irgendeinem Grund nun schon eine Viertelstunde. Die Passanten warten. Im Zug steht ein Mann im Anzug mit Schröder-Maske. Dahinter Stoiber, Merkel und Fischer, gehüllt in Geldsäcke. Ihnen folgen zwei Michel, die „das letzte Hemd“ tragen. Im Wagen vom „Hotel Kranichsberg“ gibt es Freibier.

Auf dem Wagen des Radiosenders „94,3 r.s.2“ animiert jemand die Zuschauer, „Heute feiern wir, und mit uns feiert ganz Berlin“ zu singen. Aber kaum jemand tut es. Ein Remake von „Country Roads“ wird abgespielt. Ein Theaterwagen schleicht vorbei, wieder „Country Roads“. Der „Tollhaus“-Wagen kommt. „Ist ja so müde wie bei meiner Oma zu Hause“, ruft der Animateur, „Berliner, ihr seid zu leise!“

Ein Plakat des „Falkenseer Karnevals Klubs 2000“ verkündet: „In Falkensee drei Jahr schon – hat Karneval wieder Tradition.“ Beim französischen Musikzug „Banda Picon“ schunkeln einige. 14.50 Uhr. Kalt geworden. Wieder „Country Roads“. Dann ist der Zug aus. „Nicht schön, aber selten“, sagt eine Frau, die sich bei ihrer Freundin eingehakt hat, beim Weggehen. 400.000 sollen auf der Straße gewesen sein.