Ein Prozess ums Prestige

Selbst in der Kommission hat man Zweifel an einem Erfolg der Klage gegen den Rat. Doch darauf verzichten wollte man nicht

VON CHRISTIAN RATH

Finanzminister Hans Eichel blieb ruhig. Er bezeichnete die Klage der Kommission wegen Aussetzung der Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich als „wenig nachvollziehbar“. Die Kommission solle lieber auf „Kooperation statt auf Konfrontation“ setzen.

Am späten Dienstagnachmittag hatte die Kommission beschlossen, beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg Klage zu erheben. Verklagt werden dabei aber nicht Deutschland und Frankreich, sondern der EU-Ministerrat. Beanstandet wird das Verhalten der 15 Finanzminister in der Sitzung vom 25. November, als diese sich nicht nur weigerten, härter gegen Deutschland und Frankreich vorzugehen, sondern das Verfahren einfach „aussetzten“.

Das Defizitverfahren gegen die beiden großen EU-Staaten läuft schon seit November 2002. Beide Länder sind nicht in der Lage, ihre Neuverschuldung unter 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu halten. Deshalb beschloss der EU-Ministerrat im Januar 2003 erste Empfehlungen an beide, wie sie ihr Defizit in den Griff bekommen können.

Im Herbst forderte die Kommission dann eine Verschärfung der Anforderungen, weil sich keine Besserung abzeichnete. Unter anderem sollte Hans Eichel seinen Haushaltsentwurf um 6 Milliarden Euro abspecken. Dazu sah sich der Finanzminister aber nicht in der Lage und rief offen zur Opposition gegen die Brüsseler Pläne auf.

In der Sitzung am 25. November gab es jeweils drei Abstimmungen zu Deutschland und Frankreich. Zunächst forderte die Kommission vom Rat die Feststellung, dass die beiden Staaten bisher ihren Pflichten nicht genügend nachgekommen seien. Doch die erforderliche Zweidrittelmehrheit kam nicht zustande. Anschließend scheiterte die Kommission auch mit dem Versuch, neue Empfehlungen und eine strenge Frist beschließen zu lassen. Stattdessen beschloss der Rat in der dritten Abstimmung mit Zweidrittelmehrheit „Schlussfolgerungen“, die Deutschland und Frankreich für das Erreichte lobten und ihnen Empfehlungen auf den Weg gaben, die kaum über das hinausgehen, was die Länder ohnehin vorhatten. Der Beschluss gipfelte darin, dass die Defizitverfahren ausgesetzt wurden.

Währungskommissar Pedro Solbes war wütend. Noch in der Sitzung gab er zu Protokoll, die Beschlüsse des Rates verletzten „Geist und Regeln“ des EG-Vertrags wie auch des Stabilitätspakts von 1997. Auch unter den kleinen Mitgliedstaaten rumorte es. Sie sahen in den Ratsbeschlüssen eine Vorzugsbehandlung großer Mitgliedstaaten.

Schon damals hatte Solbes eine Klage vor dem EuGH in Aussicht gestellt, stieß aber innerhalb der Kommission auf Kritik. Sein aus Deutschland stammender Kollege Günter Verheugen, zuständig für die EU-Erweiterung, hielt die Klage für eine „unnötige Verschärfung“ des Konflikts. Im Kern gehe es um politische, nicht um juristische Fragen. Bei der Kommissionssitzung in Straßburg konnte sich Verheugen allerdings nicht durchsetzen. Ohne Abstimmung beschloss die Kommission die Klageerhebung.

Angreifen kann sie dabei allerdings nur vermeintliche Verfahrensfehler des Rates. Denn der EuGH wird sich kaum auf die Bewertung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland und Frankreich oder deren Haushaltshaltspolitik einlassen. Entscheidende Frage ist also, ob der Rat die Beschlüsse vom 25. November überhaupt fassen durfte. Experten wie Ulrich Häde von der Viadrina Frankfurt (Oder) sind skeptisch, ob die Kommission Erfolg haben wird (s. Interview). Und selbst bei einem Erfolg in Luxemburg, so Häde, könnte der Rat die Defizitverfahren auch weiterhin blockieren.

Das sieht wohl auch die Kommission nicht anders. In einer Erklärung von Dienstag heißt es: „Der Rat hatte die Möglichkeit, die Empfehlungen der Kommission zurückzuweisen.“

Das Problem der Kommission liegt auf der Hand. Wenn sie gegen mehrere EU-Staaten gleichzeitig Defizitverfahren führt, dann ist es schwer, im Rat eine Zweidrittelmehrheit zu erhalten. Zwar ist der jeweils betroffene Staat von der Abstimmung ausgeschlossen, aber mit Hilfe der anderen Defizitsünder kann er allemal rechnen.

Die Klage der Kommission ist zunächst wohl vor allem eine Prestigesache. Gewinnt die Kommission in Luxemburg, wäre sie zumindest moralisch gestärkt.

Wie schnell der EuGH entscheidet, steht allerdings noch nicht fest. Die Kommission hat ein „beschleunigtes Verfahren“ beantragt, das binnen weniger Monate zum Abschluss käme. Ob der Fall dafür geeignet ist, muss EuGH-Präsident Vassilios Skouris entscheiden. Das Urteil im Schnellverfahren würde der EuGH aber – anders als bei einer einstweiligen Anordnung – in normaler Besetzung treffen.