„Da muss das Kino durch“

Zum 75. Geburtstag von Jacques Rivette zeigt das Metropolis eine Auswahl seiner Pariser Filme

von ECKHARD HASCHEN

Von den Kinofanatikern der Nouvelle Vague war und ist Jacques Rivette wohl der Fanatischste. An einem Tag konnte er sich sechsmal hintereinander Jean Renoirs Die goldene Karrosse anschauen und am nächsten von morgens bis abends Geld für einen eigenen Film auftreiben. Er war es, hat Truffaut später bekannt, der die anderen der Gruppe immer wieder angehalten hat, endlich zur Tat zu schreiten, um die verhasste „Tradition der Qualität“ im französichen Film der 50er Jahre nicht mehr nur als Kritiker, sondern mit eigenen Filmen aus den Angeln zu heben. So wie in Rivette, dem Regisseur, bis heute der Kritiker fortlebt, der die gesehenen Filme als Material nimmt, um etwas Eigenes aus ihnen zu machen, so spürt man in seinen Texten von Anfang an einen klaren, nach Realisierung strebenden Entwurf von Kino.

Von den französischen Regisseuren jener Zeit ließ man außer Jean Renoir („Le patron“) – bei dem Rivette zeitweilig assistierte und über den er 1966 ein dreiteiliges Porträt drehte –, Jean Cocteau, Robert Bresson und Max Ophüls kaum einen gelten. Ein wichtiges Vorbild für Rivette war Roberto Rossellini, dessen damals von vielen nicht mehr so geschätzten, weil nicht mehr ganz so neorealistischen Film mit Ingrid Bergman Rivette 1955 in seinem programmatischen „Brief über Rossellini“ verteidigte: „Es scheint mir unmöglich, Viaggio in Italia zu sehen und nicht schlagartig deutlich zu erkennen, dass dieser Film eine Bresche schlägt, und dass das ganze Kino dort hindurch muss, unter Androhung der Todesstrafe.“

Mit ähnlicher Verve erhoben die „Hitchcock-Hawksianer“, wie ihr Mentor André Bazin sie nannte, die zu der Zeit noch weithin als Konfektionäre abgetanen Hitckcock und Hawks („Genie de Howard Hawks“) in den Stand von Künstlern. Bei Nicholas Ray und Otto Preminger bewunderte man zudem, wie diese dem langsam zerbröckelnden Studiosystem Hollywoods immer größere Freiheiten abtrotzten.

Weit weniger direkt als Godard oder Truffaut hat Rivette seine eigenen Filme mit Verweisen auf andere Filme vollgepackt. Am offensichtlichsten noch seinen ersten von 1958 bis 1960 unter großen finanziellen Schwierigkeiten gedrehten Langfilm Paris gehört uns, mit einem mehrminütigen Ausschnitt aus der „Turmbau zu Babel“-Sequenz aus Fritz Langs Metropolis.

Wie Eric Rohmer konnte Rivette, dessen zweiter und einziger konventionell zu nennender Film La religieuse 1966 zunächst verboten wurde, erst von den späten 60ern an kontinuierlich drehen. Von dem leider so gut wie nie zu sehenden L‘amour fou bis zu Le Pont du Nord, 1981, arbeitete er seine Drehbücher nur in Grundzügen aus, um seinen Schauspielern alle Freiheiten zur Improvisation zu lassen. Immer wieder gibt es bei Rivette Theatergruppen, für deren Mitglieder die Grenzen zwischen Rolle und Leben zuweilen zu verschwinden scheinen, und die sich zudem oft inmitten einer mysteriösen Verschwörung wähnen. In dem über zwölf Stunden langen Out 1 lässt sich Jean-Pierre Leaud „Die Geschichte der Dreizehn“, die er im Paris von 1970 wahr werden zu sehen glaubt, ausführlichst vom Balzac-Kenner Eric Rohmer erklären.

Jacques Rivettes 17 zum Teil mehrteiligen und/oder in unterschiedlichen Schnittfassungen vorliegenden Filme (zuletzt: Var Savoir; demnächst: Marie et Julien) sind innovativ, ohne dabei verquast oder selbstzweckhaft experimentell zu werden. Mit ein wenig Sinn für Parallelwelten lässt sich hier ein geradezu unerschöpfliches Universum entdecken. Als Einstieg sei der von Alice im Wunderland inspirierte Celine und Julie fahren Boot von 1974 oder der wunderbar ausbalancierte Die Viererbande von 1988 empfohlen.

Le Pont du Nord: morgen, 19 Uhr, 5.3., 17 Uhr; Celine und Julie fahren Boot: 6. + 7.3., 19 Uhr; Duelle: 10.3., 19 Uhr, 11.3., 21.15 Uhr; Die Viererbande: 14.3., 17 Uhr + 15.3., 19.15 Uhr; Vorsicht – Zerbrechlich!: 18.3., 17 Uhr + 19.3., 19 Uhr; Out 1 – Noli Me Tangere, Folge 1–4: 22.3., 17 Uhr, Folge 5–8: 23.3., 17 Uhr; Theater der Liebe: 25.3., 19 Uhr + 26.3., 21.15 Uhr; Geheimsache: 27.3., 17 Uhr + 28.3., 19 Uhr, Metropolis