ROBIN ALEXANDER über SCHICKSALE
: Der Drache mit zwölf Hörnern

Wie ich zwei Stunden vor Geschäftsschluss das Jüngste Gericht überlebte

Eigentlich sollten wir alle tot sein. Schlimmer noch: Tot und gerichtet. Denn vor einem Monat sollte die Apokalypse stattfinden. Der Weltuntergang. Das Jüngste Gericht.

Wer in der Schule Ethik oder Lebenskunde hatte und deshalb nicht weiß, wovon gerade die Rede ist, schlägt schnell

a) in einer Bibel ganz am Ende unter Offenbarung nach, oder

b) gibt „Hieronymus Bosch paintings“ bei Google ein, oder

c) holt sich „Armageddon“ aus der Videothek oder „The Ninth Gate“ mit Johnny Depp.

Also: Pest, Krieg, Hungersnot, Tod, das Tier, die Hure Babylon, die sieben Posaunen, sich öffnende Gräber, 666, der Drache mit zwölf Hörnern, Feuer, Rauch, Schwefel – das volle Programm. All das war geplant für den 13. Dezember 2003. Kurz nach vier Uhr nachmittags.

Woher ich das weiß? Das kam so: Ich schleppe mich und einige Päckchen und Pakete durch das Vorweihnachtsgewühl eines großen Einkaufszentrums im Agenda-2010-Verlierer-Stadtteil Berlin-Neukölln. Plötzlich wird es merklich dunkler. Das Piepen und Rattern der Registrierkassen erstirbt, und auch die Gehirnweichmachmusik aus dem Supermarkt „Kaufland“.

Ein Stromausfall? Nein, jemand hat das Licht heruntergedimmt. Aber das merkt keiner, denn alle schauen sowieso auf dieses andere Licht. Sieben Wesen schreiten durch das Einkaufszentrum.

Sie tragen alle wallende weiße Gewänder. Sie haben blasse Gesichter und lange blonde Haare. Das Wesen, das die Gruppe anführt, trägt auf dem Haupt einen Kranz mit echten, brennenden Kerzen. Und sie singen – in einer merkwürdigen Sprache, die ich nicht verstehe, die mir aber seltsam vertraut vorkommt. Das müssen Engel sein. Die sind bestimmt nicht zufällig hier. Die sind gekommen, um abzurechnen. Zu richten, die Lebenden und die Toten.

Uijuijuih.

Zu welcher dieser beiden Kategorien die Besucher des Einkaufszentrums gehören, ist allerdings an einem verkaufsoffenen Sonnabend nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen. Die meisten haben nur ganz kurz aufgeblickt und hasten jetzt schon wieder in irgendeinen Laden: Was ist schon ein himmlisches Wesen mit brennenden Kerzen auf dem Kopf gegen einen DVD-Dremel-Sound-Schrauber-Dings für 49,90 Euro?

Wer fürchtet ein schreckliches Ende dieser Welt, wenn in zwei Stunden die Geschäfte zumachen? Vielleicht gibt es ein Leben nach dem Tod. Ein Shoppen nach dem Ladenschluss gibt es sicher nicht.

Die Engel, die mittlerweile eine kleine Bühne erklommen haben, auf der Mikrofone und Verstärker stehen, scheinen irritiert. Trotz brennender Häupter und Liedern nimmt sie niemand groß zur Kenntnis. Ihre Gesichter zeigen, sie fühlen sich im falschen Film. Irgendwas läuft schief: Nicht Cherubim noch Seraphim oder Gabriel mit dem Schwert stehen neben ihnen, sondern ein untersetzter Wachmann mit einem Eimer Wasser, der nicht das Wort des Herrn verkündet, sondern nur „Brandschutz“ murmelt.

Eigentlich müssten die Engel ja auch Flügel auf dem Rücken haben, aber ihre weißen Gewänder beulen sich eher auf der anderen Seite aus. Doch da: Das Wesen mit der Krone von brennenden Kerzen ergreift das Wort.

Geht es jetzt los? Wird den Händlern das Geld aus der Hand geschlagen und den Zechern der Glühwein? Vertilgt der Herr nun, die ihn lästern? Wird es jetzt Asche vom Himmel regnen? Wird nun Blut in den Flüssen fließen? Werden sich jetzt die Gräber auftun? WAS SPRICHT DER ENGEL DES HERRN?

„Mina Damer och Herrar“, spricht er.

Schwedisch.

Und dann in unsicherem Deutsch: „Wir sind von der schwedischen Gemeinde. Heute ist der Tag der Heiligen Lucia. Deshalb habe ich einen Preiselbeerstrauch und brennende Kerzen auf dem Kopf. Das ist ein schwedischer Brauch, den wir ihnen vorstellen möchten. Hej då. God Jun.“

Davon geht die Welt nicht unter? kolumne@taz.de

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