Ein Signal aus Brüssel an Ankara

Kommissionspräsident Prodi besucht die Türkei. Hat das Land jetzt eine echte Chance für die Aufnahme in die EU?

ISTANBUL taz ■ Erstmals, seit die Türkei 1964 mit der damaligen EWG einen Assoziierungsvertrag unterschrieben hat, besuchte gestern der höchste Repräsentant der EU den ewigen Aufnahmekandidaten am Bosporus. Der Besuch Romani Prodis bringt in der Sache keine wesentlichen Veränderungen, ist aber ein wichtiges Signal. Er zeigt, dass jetzt auch Brüssel die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Ankara ernsthaft in Erwägung zieht.

Das war nicht immer so. Aber nun hat auch die Kommission akzeptiert, dass die Türkei eine echte Chance bekommen soll. Mit einem EU-Informationsbüro in Istanbul, das Prodi heute einweiht, will man nun auch in der türkischen Öffentlichkeit Flagge zeigen. Die Sprachregelung, die die Kommission vor dem Abflug Prodis nach Ankara ausgab, war: Die Türkei kann es schaffen, bis Ende des Jahres die in den Kopenhagener Kriterien formulierten Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu erfüllen, wenn sie ihre Reformgesetze umsetzt.

Prodi hat diese Linie in seinen Gesprächen mit Ministerpräsident Erdogan und Präsident Sezer noch einmal betont. Er nannte die Fortschritte im letzten Jahr beeindruckend und gestand, dass die Kommission vom Reformtempo der Türkei überrascht worden sei. Aber nun wolle man auch praktische Ergebnisse sehen. Die Regierung in Ankara reagierte auf diesen Einwand mit der Einrichtung einer interministeriellen Kommission, die die Implementierung der Gesetze überwachen und Schwierigkeiten im bürokratischen Vollzug ausräumen soll.

Dabei ist das größte Problem im Moment die Justiz. Die türkische Staatsschutzjustiz ist jahrzehntelang mit Richtern besetzt worden, die den Staat vor den Bürgern und nicht die Bürger vor dem Staat schützen sollen. Deshalb werden Reformen im Justizapparat oft bis zur Unkenntlichkeit uminterpretiert. Bestes Beispiel ist das Verfahren gegen die ehemalige kurdische Abgeordnete und Friedenspreisträgerin des Europäischen Parlaments, Leila Zana, und drei ihrer Kollegen. Die Regierung konnte zwar durchsetzen, dass der Prozess neu aufgerollt werden musste, doch das Staatssicherheitsgericht in Ankara, vor dem just heute wieder verhandelt wird, macht nicht den Eindruck, als sei es bereit, sein Urteil von 1995 zugunsten der Angeklagten zu revidieren.

Die türkische Regierung macht deshalb geltend, nicht alle Reformen müssten bis Ende des Jahres wirklich vollständig umgesetzt sein. Schließlich werden ja, auch wenn 2005 die Verhandlungen beginnen, noch mindestens zehn Jahre vergehen, bis das Land wirklich EU-Mitglied wird.

Auch für Prodi ist klar, dass die Umsetzung der Reformen letztlich eine Interpretationsfrage ist, über die nicht objektiv, sondern politisch entschieden wird. Deshalb rückt als eigentliches Hindernis auch immer mehr die Zypernfrage in den Vordergrund. Sowohl Prodi wie auch diverse EU-Regierungschefs, ja selbst US-Präsident Bush, erhöhen täglich den Druck auf Ankara, bis Mai auf Zypern ein Ergebnis zu erreichen, das es möglich macht, die Insel insgesamt in die EU aufzunehmen. Andernfalls kann die Kommission sich nicht vorstellen, dass Griechenland und die Zyperngriechen Ende des Jahres einem Beginn von Beitrittsgesprächen mit der Türkei zustimmen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH