Lehranstalt quo vadis?

Bestürzende und nachdenklich machende Szenen aus dem deutschen Schulalltag

Beginn der fünften Stunde. Tiefer Frieden liegt über der verbliebenen Klasse

Morgens um acht ist die Schule, von der hier die Rede sein soll, die ruhigste Lehranstalt der Welt. Wenn in anderen staatlichen und städtischen Schulen die Gänge sich leeren, der Lärm der Schüler allmählich verebbt und der Unterricht beginnt, liegen die Klassenzimmer dieses Lehrinstituts noch mitten im Dornröschenschlaf – in einer Art Prä-Pisa-Position.

Um 8 Uhr 15 hat sich die Lage immer noch nicht grundlegend verändert. Sieht man von dem versprengten Häufchen der anwesenden Schüler ab, scheint ein gut Teil der Klassen in verspäteten S-Bahnen, unvorhergesehenen Fahrscheinkontrollen, im Stau oder im Bett stecken geblieben zu sein.

So findet der Unterricht eben im kleinen Kreise statt. Thema im Fach Wirtschaftslehre: Antizyklische Haushaltspolitik in Zeiten der Hochkonjunktur. Die Schüler lauschen gebannt den eindrucksvollen Ausführungen der Lehrkraft über das finanzpolitische Instrumentarium der Bundesbank, nur die einsetzenden Hammerschläge der Dachdecker untermalen seinen fesselnden Vortrag. Da – jetzt klopft es auch an der Tür! Marian ist es, der des Öfteren Probleme mit der U-Bahn hat. Und tatsächlich, die U- Bahn hatte ausgerechnet heute mal wieder eine Betriebsstörung. In der ersten Pause trudeln dann weitere Nachzügler ein. Eindeutige Favoriten der Erkärungen: „Ich musste zum Kreisverwaltungsreferat“, „Ich hatte einen Termin im Arbeitsamt“, „Ich musste meine Mutter zum Zahnarzt begleiten“, „Die S-Bahn ist im Tunnel stehen geblieben“. Seltener schon der durch seine schlichte Eleganz bestechende Klassiker „Ich habe verschlafen“.

Die zweite Unterrichtseinheit dann vor fast vollzähliger Klasse unter überwiegend normalen Bedingungen. Nur das rhythmische Hämmern des Monteurs, der im Keller die Heizungsrohre repariert, untermalt die Erklärungen des Mathematiklehrers zur Infinitesimalrechnung mit dem exotischen Sound einer jamaicanischen Steelband … Steel – an dieser Anstalt unterrichtet ein im wahrsten Sinne des Wortes gestählter Lehrkörper, eine Schar aufrechter Kämpfer für die Sache des Wissens und der Aufklärung, Lehrer, für die das Burn-out-Syndrom ein Fremdwort ist und deren ganzes Sinnen und Trachten einzig einem Ziel verpflichtet ist – der Hebung der Volksbildung. Und ihrer Bezüge. Doch kaum ist das pädagogische Gesamtkunstwerk voll auf Touren gekommen, hat der Anwesenheitspegel auch schon seinen Zenit überschritten. Es bröckelt und bröselt an allen Fronten: Hassan hat ausgerechnet jetzt ein wichtiges Vorstellungsgespräch, Tina hat mal wieder Probleme mit ihrem Freund, und Denis muss noch vor zwölf Uhr eine Rechnung bezahlen. Eines kann man diesen Jugendlichen jedenfalls nicht vorwerfen – dass sie die Unterrichtszeit nicht im Sinne ihrer im Aufbau befindlichen Ich AGs zu nutzen wüssten.

Beginn der fünften Stunde. Tiefer Frieden liegt über der verbliebenen Klasse. Nur das leise Mahlen der Kauwerkzeuge kündet davon, dass noch so mancher Döner vertilgt und noch die eine oder andere Milchschnitte geknabbert sein will. Auch die Förderung handwerklicher Fähigkeiten kommt nicht zu kurz: Das Zusammenbasteln der Kinderüberraschungsei-Bausätze kann im Sinne einer projektorientierten, fächerübergreifenden Unterrichtsgestaltung nur begrüßt werden. Um eins, wenn Lehrervortrag und Schülergekicher langsam verebben, wenn die Tafel notdürftig gewischt und die Mehrzahl der Stühle auf die Bänke gestellt werden, wenn sich die Etage langsam leert, dann, ja dann singt die Bohrmaschine im Kellergeschoss endlich ungestört ihr einsames Lied …

RÜDIGER KIND