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: Oswald Wiener entdeckt die Umami-Papille

Der Säurespoiler

Sie haben fast alles ausprobiert. Die Pensionäre Bouvard und Pécuchet, Gustave Flauberts tragikomisches Freundespaar, das sich mit glühendem Enthusiasmus auf der Suche nach dem Sinn des Daseins durch das ganze Wissen der Welt kämpft oder besser: bildet. Vom Gartenbau, Landwirtschaft über Chemie zur Astronomie, Geschichte, Pädagogik, Religion und Politik.

Der Schriftsteller und Philosoph Oswald Wiener hat dem letzten Buch von Flaubert, das ursprünglich mit dem „Dictionnaire des idées reçues“, einem Wörterbuch der Gemeinplätze, enden sollte, ein neues Kapitel zugefügt: eine zeitgenössische Tischrede. Bouvard und Pécuchet als moderne Kellermeister, als Weinverkoster und -kenner in der globalisierten Welt.

Oswald Wiener kann aus seinem Fundus schöpfen, betrieb er doch lange Jahre das Restaurant „Exil“ am Paul-Lincke-Ufer in Berlin-Kreuzberg. Das Lokal, das mit einer wunderschönen Bier-Tapete von Dieter Roth ausgestattet war und in dem Beuys einmal seine Schweinslederhandschuhe vergaß, weil ein Gast (siehe: http://www.hoefliche-paparazzi.de) betrunken darauf eingeschlafen war. Außerdem gab es im „Exil“ wunderbaren österreichischen Sauerbraten und burgenländische Weine. Zu einer Zeit, als leckeres, gutes Essen in Kreuzberg noch als extrem anrüchig galt und die vermutete Existenz der damit verbundenen Wahrnehmungsorgane den Ruch der politischen Oberflächlichkeit und Inkompetenz hatte.

Zurück zu den erwähnten Kellermeistern. Bouvard und Pécuchet befinden sich im Experimentierstadium, sind mitten drin angelangt in der Wunderwelt des Weines. Ob der gleiche Wein an unterschiedlichen Orten getrunken gleich schmeckt oder völlig anders? Welche Form sollte der Säurespoiler aufweisen, also wie sollte die Lippe des Glasmundrandes geformt sein, um den Wein möglichst geschmacksgerecht über die Zunge und ihre Papillen gleiten zu lassen? „Wir sollten jemanden zu Rate ziehen, der etwas mehr von Glasblasen versteht, wie wir.“ Zum Glück – es ist ja eine Tischrede und kein Roman – versickert Pécuchets Vorschlag ungehört, wie der leichte, kaum wahrnehmbare Bittermandelgeschmack auf den Umami-Papillen. Umami-Papillen?

Ja, es gibt eben mehr auf dieser Welt als unsere heimischen Geschmackspapillen, die lediglich süß, sauer, salzig und bitter kennen. Eben die Umami-Papillen, die bisher nur für die Japaner eine Rolle spielten. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es viel zu tun für Bouvard und Pécuchet. Neue Fragen bilden und stellen sich folglich: Ist Globalisierung im Reich der Sinne möglich? Fügt sich der Restzucker harmonisch in das Gesamtbild ein? Oder ist er eher faltig? Faltig?!? Wie gestaltet sich der Abgang? Eher wuchtig oder verträumt? Fast werden die beiden Abschreiber kreativ und entwickeln neues Vokabular, denn auch Wein kennt keine Grenzen, kann dezent krautig schmecken oder leicht nach Reseden duften. Im Zeitalter der Erlebnisgastronomie ist schließlich alles möglich.

Da darf der Wein sogar mit dem Etikett „interessant“ klassifiziert werden. Echt ist heute nur noch das Unbekannte. Doch irgendwann beim Philosophieren wachsen dem Duo die Zweifel, Misstrauen befällt sie, und das Wort „Weinmafia“ fällt: Schreiben die Weinjournalisten nicht eindeutig mehr über die Winzer als über deren Weine?

Ein wunderbares Buch, unbedingt lesen – vor dem ersten Schluck. Oder auch am nächsten Tag mit dickem Brummschädel und einer Aspirintablette. Es funktioniert.

WOLFGANG MÜLLER

Oswald Wiener: „Bouvard und Pécuchet im Reich der Sinne. Eine Tischrede“. Gachnang & Springer, Bern, Berlin 1998, 52 S., 12 €