Keine Rückkehr zum Sonderangebot

Araber, Kurden, Turkmenen. Viele leben als Flüchtlinge in Deutschland – und möchten nun, da Saddam gefasst ist, nichts sehnlicher als wieder nach Hause. Doch ihre politischen Organisationen haben andere Pläne

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Die Männer sitzen still um den großen Holztisch, lesen Zeitung oder starren durch die Schaufensterscheibe auf das regennasse Kopfsteinpflaster. Im Hinterzimmer des kurdischen Vereins Awadani in Berlin-Charlottenburg brodelt Teewasser. Das Foto des irakisch-kurdischen Politikers Dschalal Talabani, Clanführer und Parteichef, prangt wie das eines Staatspräsidenten an der Wand. Daneben eine Karte Kurdistans. Damit ist klar, hier herrscht die Patriotische Union Kurdistans, kurz PUK.

Hierhin kommen die Talabani-Kurden, um sich Rat zu holen, Papiere zu beantragen, ihre Probleme zu lösen, einfach um nicht allein zu sein. Bei Ahmad Berwari, Sprecher, Repräsentant und Verbindungsmann der PUK in Deutschland, klingelt das Handy ununterbrochen. Die meisten in Deutschland lebenden Kurden wollen nun nach Hause, und Berwari hat viel zu tun, ihnen das zunächst einmal auszureden.

Ein junger, kräftiger Kurde betritt das neonbeleuchtete Büro, er serviert dem Besuch Tee. Auf die Frage, ob er zurückkehren möchte, antwortet er auf Deutsch: „Lieber gestern als heute!“ „Nein“, scherzt Berwari und klingt dabei ernst, „sag, dass du nur gehst, wenn du fünftausend Euro bekommst und eine Ausbildung.“ „Ja, ja“, nuschelt der junge Mann und verschwindet wieder in der Teeküche.

Die meisten der rund 85.000 in Deutschland lebenden Irakerinnen und Iraker leben hier als Flüchtlinge oder als Asylantragstellende. Kaum einer verließ die Heimat freiwillig. Die meisten gingen, um das eigene Leben zu retten. Nun spüren viele die Erwartung der deutschen Behörden, dass sie das Land so schnell wie möglich wieder verlassen. Asylanträge werden schon seit dem Beginn des Irakkrieges nicht mehr bearbeitet, sie warten in den Schubladen auf Erledigung durch freiwillige Ausreise.

Tatsächlich sitzen seit Saddams Gefangennahme viele bereits auf gepackten Koffern. Doch im Irak warten viele Probleme auf die Rückkehrenden. Zu viele, meinen die Vertreter von insgesamt acht irakischen Exilorganisationen. In Berlin haben sie sich, als sei der Kampf noch nicht vorbei, zusammengeschlossen zu einem „Koordinationskomitee der Organisationen für die Verteidigung der irakischen Flüchtlinge“. Ihr Motto: Hier bleiben! Bis die Deutschen bei der Rückkehr helfen.

Ein organisierter Ausreisestreik also. Hintergrund ist die prekäre wirtschaftliche Situation in der kriegszerstörten Heimat. „Von dem Sturz Saddams profitieren wir zwar politisch“, sagt Berwari, der in Deutschland Philosophie studiert hat, „aber wir müssen jetzt erkennen, dass es uns wirtschaftlich schlechter geht.“

Seit dem Auslaufen des UN-Oil-for-Food-Programms Ende November wird das immer deutlicher. Bis dahin gab es insbesondere in den kurdischen Gebieten keine Lebensmittelknappheit, keinen Mangel an Wasser und Strom, auch die befürchtete Flüchgtlingswelle aus den irakischen Gebieten blieb aus. Wer nun zurückkehrt, den erwarten neben Familie und Heimat auch Unsicherheit und Armut.

Zwar arbeiten die beiden kurdischen Organisationen, PUK und die KDP, die Kurdische Demokratische Partei unter Clanchef Barsani zusammen. Zwar gibt es ein Parlament, aber noch immer ist es den einst rivalisierenden Parteien nicht gelungen, ihre beiden Regionalverwaltungen zusammenzulegen. „Das ist wie Bayern und Baden-Württemberg“, sagt Berwari, jede Partei habe ihre eigenen Ministerien, ihre Landeshauptstadt und ihre Gesetze. Durch eine Zusammenlegung würden rund sechzig- bis siebzigtausend Beamte, vom Minister bis zum Hausmeister, arbeitslos werden. Doch gegenwärtig ist in der Heimat nichts kostbarer als Arbeit und Geld, denn beides ist kaum zu finden.

Abdullatif Jumeili* will dennoch zurück. Der Vater von zwei Kindern kam erst vor drei Jahren nach Hannover. Seitdem warten er und seine Frau auf ihre Anerkennung als Flüchtlinge. Sie mussten ihre Familie verlassen, weil Jumeili wegen seiner Mitgliedschaft in einer Oppositionspartei verfolgt wurde. Jetzt möchten auch sie wieder nach Hause. Wie es dort aussieht, weiß er schon ziemlich genau, denn ab und zu schlüpft Jumeili, wie etliche seiner Schicksalsgenossen hier in Deutschland, durch die Maschen des bürokratischen Netzes. Obwohl er als Asylantragsteller offiziell nicht in die Heimat reisen darf, besuchte er erst kürzlich seine Mutter in einem Dorf bei Sülemaniye. Jumeili flog zunächst in den Iran, für den er sich ein Visum besorgte, und passierte, ohne einen Einreisestempel zu kassieren, die kurdisch-iranische Grenze. In seiner Tasche hatte er ein Schreiben der PUK, das ihm bei den iranischen Sicherheitsbehörden die freie Durchreise ermöglichte.

Wie die kurdisch-iranische Grenze ist auch die zu Syrien keine international anerkannte Grenze. Den Dienst versehen dort nur Militärs und Sicherheitsbehörden – und die haben kein Interesse, ihren im Exil lebenden Landsleuten mit Stempeln Schwierigkeiten zu bereiten. „Ich habe meine Brücken noch nicht abgebrochen, ich könnte sofort wieder da anfangen, wo ich aufgehört habe, sagt Jumeili ungeduldig.

Berwari versteht das. Doch seine Regierung, die PUK, lässt die Kurden nicht gehen. Schon vor Monaten wurde den politischen Exilorganisationen von Behördenseite inoffiziell bedeutet, dass die Bearbeitung der irakischen Asylanträge seit Ausbruch des Krieges im März 2003 auf Eis gelegt wurde. Selbst die Bundesbehörde, das Bundesamt für Integration, hält sich mit Entscheidungen sehr zurück, meint Berwari. „Sie warten eben ab, was da unten passiert, wer in Zukunft die Macht haben wird.“

Menschen wie Jumeili wollen nicht abwarten. Ungeduldig sind vor allem die Männer. Seine Frau hingegen – „meine Präsidentin“, lacht er – zögert. „Das ist in fast allen Familien so, weiß auch Kifah Al-Turaihi. Sie ist Araberin und die Vorsitzende vom Al Rafidain e. V. in Berlin-Neukölln. Der Verein ist ebenfalls Mitglied im Komitee zur Verteidigung irakischer Flüchtlinge. Al-Turaihi lebt schon acht Jahre in Deutschland und denkt seit dem Sturz des Regimes selbst jeden Tag über ihre Heimkehr nach. Im März, als der Krieg begann, ging sie nicht zu ihrer Arbeit in einem Berliner Labor, sondern nähte im Versammlungsraum von Al Rafidain auf ihrer alten Viking-Nähmaschine eine irakische Flagge. Und zwar die ohne Saddams handschriftliche Insignien. Abends ging sie damit auf die Antikriegsdemo am Alexanderplatz.

Obwohl die studierte Chemieingenieurin zu Hause in Bagdad 15 Jahre gegen Saddam kämpfte, sich in einer oppositionellen Gruppe engagierte, jahrelang alle paar Monate die Adresse wechselte, um nicht von ihren Verfolgern gefunden zu werden, obwohl „ich alles für mein Land gegeben habe“, weiß Kifah Al-Turaihi noch nicht, ob sie wirklich zurückkehren will. „Für uns Frauen ist die Lage dort unsicher.“

Al-Turaihi, die allein stehend ist, müsste nämlich bei ihrem Bruder in Bagdad leben und dürfte sich, wegen des Tratschs der Nachbarn, abends nicht mehr allein aus dem Haus wagen. „Als ich in den 70er-Jahren studierte, trugen nur sehr wenige Frauen an den irakischen Universitäten ein Kopftuch. Heute tragen schon neunzig Prozent aller Studentinnen eines“, sagt Al-Turaihi und zündet sich eine Zigarette an.

Sie, die sich mit der Berliner Ruppigkeit und dem ewig grauen Winterhimmel nicht anfreunden mag, will ihre Unabhängigkeit nicht mehr verlieren. Der Preis für die Heimat wäre zu hoch. Während die Männer sich im Exil nutzlos fühlen, „haben wir Frauen uns meistens besser integriert, wir sind eben flexibler“. Auch den hier aufgewachsenen Kindern ist der Drang in die Heimat fremd. Sie haben deutsche Freunde, sprechen die Muttersprache schlecht und können sich ein Leben in der Heimat ihrer Väter und Mütter überhaupt nicht vorstellen.

Die deutschen Behörden wollen sich die Sache mit den irakischen Flüchtlingen leicht machen, glaubt Berwari. Die Exilorganisationen fühlen sich instrumentalisiert, denn die Behörden „wissen schließlich, dass wir und die anderen Vereine unseren Leuten helfen, nach Hause zurückzukehren.“ Zwar regiere man dort eine Region, ärgert sich der sonst so sachliche Berwari, „aber international erkennt man uns nicht einmal an. Dennoch sollen wir tausende Heimkehrer wieder in den kurdischen Gebieten ansiedeln?“

Die Exilvertreter wollen nun Druck auf die Bundesregierung ausüben, „und zwar auch im Interesse der Deutschen“. Die Männer am Vereinstisch bei Awadani rühren griesgrämig in ihrem Tee. Sie sind unzufrieden, aber sie fügen sich, denn ihre Organisation will augenscheinlich das Beste für sie herausholen. Das ist durchaus wörtlich gemeint, denn letztlich geht es hier ums Geld. „Einer, der erst seit wenigen Monate hier ist, mag sich sagen: ‚Ich nehme alles in Kauf, mir reicht, wenn ich fünfhundert Dollar Rückkehrhilfe und den Flug nach Amman oder Ankara bezahlt bekomme‘ “, erklärt Berwari.

Wenn nur einige hundert irakische Füchtlinge sich auf diese Weise zur Rückkehr entschließen, so befürchtet das Komitee zu ihrer Verteidigung, könnte diese niedrige Latte der Maßstab für spätere Abschiebungen werden. „Die Bundesregierung würde fragen: Warum können Abgeschobene nicht, was Freiwillige vormachen?

Freiwillige Rückkehr sollte nicht überstürzt sein, betonen die Vertreter der Organisationen, denn die werde später die Grundlage sein, auf der über das Schicksal derer entschieden wird, die nicht aus freien Stücken zurückkehren wollen. Die ethnischen Vertreter haben sich unterdessen sehr genau darüber informiert, wie sich die europäischen Staaten damals bei den bosnischen und kosovarischen Heimkehrern engagierten. „Die Probleme haben uns gezeigt, dass es eben nicht reicht, einer Familie zweitausend Euro plus der Reisekosten zu zahlen.“ Berwari legt daher besonderen Wert auf vom Bund finanzierte Umschulungs- und Ausbildungsprogramme, damit die Rückkehrenden im Irak wieder Fuß fassen können.

Dass es sich hier nicht um bloße Taktiererei handelt, das macht der smarte PUK-Sprecher schnell klar. Das Problem sei vielmehr, „dass die ganze Welt den Irak mit seinen Ölquellen für ein sehr reiches Land hält. Wenn wir um Hilfe bitten, stoßen wir daher auf Unverständnis.“ Aber der Irak sei letztendlich ein mit Milliarden Dollar verschuldeter Staat, und „diese Schulden stammen auch aus Know-how-Einkäufen des alten Regimes von Technologie, die gegen uns eingesetzt wurde“. Womit Berwari auf Saddams Giftgasangriff gegen die kurdische Stadt Hallabdschah anspielt, bei der damals rund fünftausend Kurden ums Leben kamen. „Wir sind im Besitz von irakischen Geheimdienstunterlagen, die belegen, dass deutsche Behörden und Firmen mit dem Diktator in Bagdad zusammengearbeitet haben“, sagt Berwari beiläufig und fügt schnell hinzu, dass man dies nicht als Druckmittel benutzen wolle. „Jetzt kommen aber Leute und meinen: Es ist alles vorbei, ihr könnt nach Hause gehen. Wir möchten aber, dass sich Deutschland besser dafür einsetzt, dass sich die Lage im Nordirak stabilisiert, dass ein Politiksystem nach unserem Willen etabliert wird – erst dann sollte man überlegen, was man mit den irakischen Flüchtlingen macht.“

Bleigrau ist der Himmel an diesem Wintertag in Kreuzberg. Es ist kalt, und drei Männer gehen rauchend, mit hochgezogenen Schultern die hochhausgesäumten Straßen entlang. Auch sie sind aus ihrer irakischen Heimat geflohen, fühlen sich allerdings noch weniger verstanden als Araber oder Kurden. Denn sie sind Turkmenen, aus Kirkuk.

Der Anzugträger unter ihnen ist Kamal Bacalan, 43, Verbindungsmann der Irakisch-Turkmenischen Front und zugleich Chef von rund zehntausend in Deutschland lebenden Turkmenen. Er ist nervös, denn bislang hat er mit der Presse kaum etwas zu tun gehabt. Nicht dass er nicht wollte, „aber die interessieren sich einfach nicht für uns“. Die drei machen es sich in einem jener immer gleichen Hochhauswohnzimmer auf dem viel zu weichen Sofa bequem. Weil noch Besuch dabei ist, knippst einer die Neonlampe in der Sofaecke ein.

Bacalan raucht viel, Davidoff in der goldenen Schachtel. Er ist hilflos. Während die Welt sich nach dem Irakkrieg um Kurden, Araber, Christen und Schiiten sorgt, weiß kaum jemand, dass es noch Turkmenen gibt. „Wir sind drei Millionen“, betont Bacalan immer wieder, um der offiziellen kurdischen Propaganda von dreihunderttausend Turkmenen entgegenzuwirken. Und immer wieder geht es um Kirkuk, die Stadt, die zum Zankapfel zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen geworden ist.

Auf dem gekachelten Couchtisch liegt die Fernbedienung noch in Plastik verpackt. Auch Mehmet Süleyman, 34, und Orhan Halil, 38, würden Berlin am liebsten sofort verlassen. Sie hält weniger die Politik der Turkmenen-Front, die dem Komitee zur Verteidigung der irakischen Flüchtlinge nicht einmal angehört, in Berlin. Ihr Grund, zu bleiben ist das Nichts in der Heimat. Orhans Land, einige Kilometer südlich von Kirkuk, wird heute von Kurden genutzt, die Saddam in den Sechzigerjahren halfen, Orhans Vater, einen reichen Bauern, zu vertreiben. Mehmets Dorf wurde in den Neunzigerjahren von Saddams Truppen vollständig zerstört, die turkmenischen Bewohner wurden umgesiedelt, getötet, ihr Besitz wurde verteilt.

Wohin sollen wir denn zurück?“, fragt er, und weiß es selber nicht. Orhan raucht Marlboro und ist zornig. „Wir dachten die ganzen Jahre, dass Saddam das Problem ist“, sagt er. „Als sie ihn fassten, waren wir wirklich froh Jetzt wird alles gut, sagten wir. Aber nichts dergleichen. Jetzt sind die Kurden das Problem.“ Wenn ihm schon mal jemand zuhört, möchte er auch endlich seine Meinung sagen: „Die Kurden bekommen jetzt Geld von den USA, und uns übersieht man.“ Kamal Bacalan fährt nervös dazwischen. „So was darfst du nicht sagen.“ Doch, widerspricht Orhan, „zu Hause demonstrieren unsere Leute doch auch immer öfter gegen die Kurden. Die nehmen uns alles weg.“

Hier in Berlin trinkt er mit seinen kurdischen Bekannten manchmal einen Tee. Aber um Kirkuk würde Orhan am liebsten mit ihnen kämpfen. „Zu Hause gehört mir halb Kirkuk, und hier kann ich mir nicht einmal die Zigaretten leisten.“ Er und seine turkmenische Frau, die beide aus der Heimat flüchteten, leben vom Berliner Sozialamt. In diesen Tagen erwarten sie ihr zweites Kind. Eines Tages, ist Orhan sich sicher, werden sie ihr Land zurückbekommen. Und die Turkmenen Kirkuk. „Solange Saddam nicht gefasst war, dachten wir, wir kehren nie zurück. Aber jetzt haben wir doch wieder große Hoffnungen“, sagt er und lächelt zum ersten Mal.

* Name geändert

ADRIENNE WOLTERSDORF, 37, ist Leiterin des Berlinressorts der taz