„Mein Mann hatte ja keinen Schnupfen“

Morgen kämpft Alexander Leipold mit dem VfK Schifferstadt um die deutsche Meisterschaft, dann um die Olympia-Teilnahme. Vor wenigen Monaten war an so etwas nicht zu denken: Der Ringer hatte mehrere Schlaganfälle erlitten

SCHIFFERSTADT taz ■ „Hier kommt Alex“, schreit Campino von den Toten Hosen aus den Lautsprechern in die zum Bersten gefüllte Schifferstadter Wilfried-Dietrich-Halle, und mit großer Selbstsicherheit schreitet „Alexander der Große“; zum Kampf. Keiner der 2.500 Menschen sitzt auf seinem Platz. Alle stehen, klatschen und erheben den Einzug von Alexander Leipold zum Triumphmarsch. Den Kopf hat er leicht angehoben und seine Augen blicken fest und unerschrocken in die seines Gegners. Der Kampf kann beginnen. Es ist fast so, als wäre da nichts gewesen in den letzten Monaten. Fast so. Der VfK Schifferstadt gewinnt zwar das erste Finale um die deutsche Mannschaftsmeisterschaft der Ringer gegen den KSV Aalen klar mit 16,5:6, aber Leipold verliert gegen den ehemaligen Europameister Emzarios Bedinidis. Und dennoch: Gefeiert wird der viermalige Ringer des Jahres wie ein Sieger, denn für viele ist es ein Wunder, dass Leipold überhaupt wieder auf der Matte steht, und vor allem so schnell. „Schließlich“, sagt seine Frau Juliana, „schließlich hatte mein Mann ja keinen Schnupfen.“

Erst rund fünf Monate ist es her, als drei kurz aufeinander folgende Schlaganfälle den 34-jährigen Ausnahmeathleten von der Matte in den Rollstuhl beförderten. Leipolds rechte Körperhälfte war kurzzeitig gelähmt, das Sprachzentrum gestört. Aber schon im Dezember, im Viertelfinale gegen Luckenwalde, gelang ihm bei seinem sensationellen Comeback ein klarer Punktsieg. „Das war ein unglaubliches Gefühl“, sagt Leipold über jenen Moment. Alexander Leipold kennt die Extreme. Sein Sportlerleben pendelt zwischen dem Erklimmen sagenhafter Gipfel und dem Fall in tiefste Abgründe: zweimal Weltmeister, viermal Europameister, dreimal Weltcupsieger, 20-mal Deutscher Meister, Olympiasieger von Sydney – bis zur Urinprobe. Man entdeckt zu viel Nandrolon in Leipolds Blut. Ihm wird die Goldmedaille aberkannt. Er sagt, er sei kein Dopingsünder, sondern Opfer. Sperre. Erfolgreiches Comeback. Schlaganfallopfer. Und nun gelingt ihm wieder eine sensationelle Rückkehr. Lapidar meint der Wortführer seiner Sportart: „Es gibt eben Höhen und Tiefen im Leben.“

Aber ist die momentane Herausforderung nicht ein täglicher Tanz am Abgrund? Wo liegt die Grenze zwischen sportlichem Ehrgeiz und medizinischer Vernunft? Sein Arzt, Dr. Ernst Jakob vom Sportkrankenhaus Lüdenscheid-Hellersen, sieht kein Risiko in der raschen Rückkehr auf das Mattenviereck. „Mir kann jetzt nicht mehr passieren als vorher auch“, glaubt Leipold, nachdem die Mediziner seine Schlaganfälle als Folge einer Viruserkrankung diagnostiziert haben. Vorsichtig tastet er sich an höchste Belastungen heran, über leichtes Kreislauftraining mit einem Pulsfrequenzmesser und Reittraining für die Koordination. Angst vor einem Rückschlag hat er keine. „Alex weiß, was er tut“, glaubt Leipolds Förderer, der Freistil-Bundestrainer und Sportdirektor des Deutschen Ringer Bundes (DRB) Wolfgang Nietschke. Leipold sei ein Stratege. Der sagt: „Im Ringen ist es wie im Schach: Du musst immer ein paar Züge vorausdenken.“

Längst ist aus einem großen Traum wieder ein greifbares Ziel geworden: „Ich will unbedingt bei den Olympischen Spielen in Athen dabei sein“, sagt er und weiß: „Es fehlen noch einige Prozent an Kraft und Ausdauer.“ Deshalb überlegt Helmuth Pauli, der Präsident des DRB, schon einmal laut: „Warum sollten wir Alex keine Wild Card zugestehen?“ Diese würde der Kämpfernatur den Zeitdruck nehmen. Ein Erfolg in Athen, der Wiege der Olympischen Spiele, wäre eine Genugtuung für den „Olympiasieger ohne Medaille“, wie sich Leipold gern selbst nennt.

Morgen, beim Final-Rückkampf in Aalen, wartet erneut Bedinidis, ein echter Gradmesser für Leipolds Form. Auch seine Frau Juliana wird dann wieder am Mattenrand mitzittern. Ihr kommen die zwei mal drei Minuten Kampfzeit vor wie Stunden: „Ich sehne immer den Schlussgong herbei“, sagt sie, ohne dass ihr Lächeln das Bangen aus ihrem Gesicht verdrängen könnte. Wohl auch deshalb wagt ihr Mann den Blick in die Zukunft. Noch eine Saison will Leipold, der halbtags als Industriekaufmann in Aschaffenburg arbeitet und abends als Landestrainer in Hessen den Nachwuchs ausbildet, beim VfK dranhängen. Die Möglichkeit, 2005 Nachfolger von Bundestrainer Wolfgang Nietschke zu werden, ist ein Gedanke, mit dem sich der Freistilringer durchaus anfreunden kann. Zuerst aber erhofft sich Leipold ein Happy End als Aktiver in Athen. Der Sportler aus Karlstein, der noch vor fünf Monaten im Rollstuhl saß, hat ein letztes, großes Kapitel seiner Karriere aufgeschlagen.

TOBIAS SCHÄCHTER