Bakterienalarm im Revier

AUS DEM PAS-DE-CALAIS DOROTHEA HAHN

„Wovor sollte ich Angst haben?“, brummt der alte Mann. „An irgendetwas müssen wir doch alle sterben.“ Kopfschüttelnd stapft er durch die ölglänzende Pfütze. Sperrt den Kofferraum eines Citroën auf. Lädt Obst, Fleisch und Gemüse aus dem Einkaufswagen um. Setzt sich ans Lenkrad. Und fährt los.

Der Parkplatz ist das Epizentrum. Die große, windige Fläche liegt zwischen dem Hypermarkt Leclerc und der dazugehörigen Tankstelle, zwischen Kleiderdiscountern, einer Autowaschstraße und einem umgepflügten Acker. Ein paar Dutzend Meter entfernt, gleich hinter dem Acker, ragen zwei metallische Türme in den grauen Himmel. Sie gehören zur petrochemischen Fabrik Noroxo, in der Alkohole und Säuren für die Kosmetikindustrie hergestellt werden. In der feuchten Wärme dieser Kühltürme sind die Legionella-Bakterien herangereift, bevor sie den Weg in die Lungen ihrer menschlichen Opfer gefunden haben. So erklärt es die französische Umweltministerin Roselyne Bachelot. Anfang Januar hat sie die Fabrik stillgelegt. „Vorsorglich“ und „vorübergehend“.

Seit Anfang Dezember sind 73 Menschen in den umliegenden Orten an der Legionärskrankheit erkrankt. Täglich kommen neue hinzu. 9 Menschen sind bereits daran gestorben. Der jüngste Tote war 53. Die ältesten waren über 90. Labortests haben gezeigt, dass die Erreger mit dem Stamm in den Noroxo-Kühltürmen identisch sind. Es ist die schwerste Legionellen-Epidemie, die Frankreich je erlebt hat. Und die erste, deren Erreger industriellen Ursprungs sind. Lüftungsanlagen oder Duschen in Altersheimen, Krankenhäusern oder Hotels sind normalerweise die Erregerherde.

Mit 15 Kranken am härtesten getroffen hat die Epidemie Harnes – den Ort neben dem großen Parkplatz. Harnes ist eingerahmt von Chemiefabriken, die wie Noroxo als „Seveso“-Typen klassifiziert sind. Und von kirchturmhohen schwarzen Bergen, die an die Zeit des Kohlenbergbaus erinnern. 23 Jahre nachdem die letzte Grube der Region geschlossen wurde, dienen sie heute als Radsportgebiet. Und als Untergrund für Losungen. Seit vergangenem Frühling prangt auf der fast kahlen Kohlenabraumhalde am Ende der Rue Stalingrad in großen weißen Lettern das Wort: „PAIX“ – Frieden.

Am Tag nachdem wieder eine Frau aus Harnes an der Legionärskrankheit gestorben ist, geht bei Leclerc der Betrieb weiter. 3 der 16 Kassen sind besetzt. Vor jeder Kasse warten ein paar Kunden. „Es trifft vor allem Alte“, sagt einer von ihnen, „Leute, die eh schon Staublungen haben oder sonst wie immunschwach sind.“ Ein anderer findet es „seltsam“, dass kein einziger der 150 Arbeiter bei Noroxo erkrankt ist. Als würde die Sache dadurch erträglicher. Am Regal für Unterwäsche raunt eine Verkäuferin einer Kundin zu: „Mir ist es schon ein wenig unheimlich, wenn ich herkomme.“ Die Kundin zuckt die Schultern: „Wer weiß, was dahinter steckt. Die Großkopfeten sagen uns ja doch nicht, was sie wissen.“

Im backsteinroten Rathaus im Zentrum von Harnes, wo seit Menschengedenken Kommunisten den Bürgermeister stellen, ist Yvan Druon gegen die Gerüchteküche vorgegangen. Mitte Dezember hat er ein Faltblatt in der 14.000-Einwohner-Gemeinde verteilt. Darin erklärt er, wie sich die Legionärskrankheit überträgt, was man gegen Gefahrenquellen im eigenen Haushalt, wie lauwarme feuchte Stellen, tun kann und dass er von den zuständigen Aufsichtsbehörden restlose Aufklärung verlangt. Zu dem Zeitpunkt hatte die Legionärskrankheit schon die beiden ersten Todesopfer gefordert, und in den Lokalzeitungen tauchte immer häufiger das Wort „Epidemie“ auf. Die Regierung im 200 Kilometer entfernten Paris schickte zwar noch keine Minister auf die Reise in den Norden. Aber sie begann zu spüren, dass eine neuer Skandal im Gesundheitswesen drohte. Vier Monate nachdem im Hochsommer 15.000 Menschen in Frankreich den „Hitzetod“ gestorben waren.

In der vergangenen Woche hat Monsieur Druon ein Transparent an die Rathausfassade gehängt. „Arbeit und Gesundheit verlangen einen effizienten und präventiven öffentlichen Dienst“, steht darauf. Der kommunistische Bürgermeister macht nicht den US-Konzern ExxonMobil, dem die Noroxo-Fabrik am Ortsrand gehört, für die Katastrophe verantwortlich. Sondern die Regierung in Paris und ihre ultraliberale Politik. „Die Aufsichtsbehörden haben viel zu wenig Personal, um Schadstoffemissionen messen und bekämpfen zu können.“

Bis die Behörden überhaupt von dem Fall erfahren haben, ist viel Zeit vergangen. Noroxo selbst will das Problem erstmals bei einer Routinekontrolle am 15. Oktober bemerkt haben und „sofort“ einen „chemischer Schock“ zur Reinigung durchgeführt haben. So steht es in der schriftlichen Erklärung, die der Direktor der Fabrik an Journalisten faxt. Für Interviews hat er keine Zeit. „Besprechungen“, begründet seine Sekretärin.

Trotz der hohen Bakterienkonzentration in den Kühltürmen hat Noroxo die Produktion im Oktober nicht angehalten. Die Benachrichtigung an die Industriekontrollbehörde „Drire“ schickte das Unternehmen erst Ende Oktober los. Doch da war der zuständige Inspektor gerade auf Fortbildung. Eine Vertretung gab es nicht. Der Brief blieb zwölf Tage ungeöffnet. Mit beinahe einem Monat Verspätung las man schließlich bei der Drire, dass in den Noroxo-Kühltürmen eine Legionella-Konzentration von 750.000 Bakterien pro Liter Wasser gemessen worden war. Das liegt 700-mal über den als ungefährlich geltenden Höchstwerten.

Guy Delaby starb am 4. Dezember auf der Intensivstation des Krankenhauses von Lens. Mitte November hatte der 53-jährige frühere Theaterdirektor, der wegen einer Herzkrankheit pensioniert war, Husten, Fieber und Schwächegefühle bekommen. Obwohl dagegen geimpft, tippte Guy Delaby auf eine besonders böse Grippe. Erst als er begann, Blut zu spucken, ging er zum Röntgen. Die Bakterien hatten bereits einen kompletten Lungenflügel erfasst. Bis zur Diagnose Legionärskrankheit vergingen aber noch einmal vier Tage. Die Medizin konnte den Schwerkranken nicht mehr retten.

Als fest stand, dass es die Legionärskrankheit war, haben Inspektoren der Gesundheitsbehörde alle feuchten Stellen im Haus der Delabys untersucht. Aber Erreger fanden sie nicht. Martine Delaby forschte allein weiter: Sie sammelte Presseberichte über die Bakterie, von deren Existenz sie erstmals erfuhr, als ihr Mann im Sterben lag, und über die Noroxo-Fabrik, deren Namen sie nie zuvor gehört hatte. Erst als sie zum ersten Mal allein auf dem großen Parkplatz vor Leclerc aus dem Auto stieg, fiel ihr Blick auf die beiden Kühltürme. Ihr wurde schlagartig klar: Guy hatte sich beim gemeinsamen Einkauf in dem drei Kilometer von ihrem Haus entfernten Hypermarkt infiziert. Am 23. Dezember schaltete die Witwe die Justiz ein. Sie war die Erste, die klagte. Seither sind ihr viele gefolgt.

Auf Madame Delabys Esstisch liegt das Strafgesetzbuch. Ohne sie wäre die Legionellen-Epidemie im Pas-de-Calais vielleicht nie ein großes Thema geworden. Die 51-jährige Sportlehrerin wollte „nicht hinnehmen, dass man mir einfach so meinen Mann tötet“. Sie hat Briefe an Politiker geschrieben, Pressekonferenzen organisiert und inzwischen eine Beratungsstelle eingerichtet. Mehrere Minister aus Paris haben sie bereits empfangen und ihr „Unterstützung“ zugesagt.

Madame Delaby ist in dem Industriesmog zwischen den schwarzen Bergen aufgewachsen. Sie liebt die Region. Aber seit ihr Mann tot ist, stellt sie Fragen, wie: „Warum stehen hier die Fabriken direkt neben Wohnhäusern?“ Oder: „Wieso wird die gefährliche Industrie nicht auf ganz Frankreich verteilt?“ Auch die Haltung der Gewerkschaften, die mit Flugblättern gegen die Stillegung der Noroxo-Fabrik protestieren, ärgert sie sehr: „Hauptsache, die haben was zu fressen. Die anderen sollen ruhig krepieren“. Zugleich befürchtet Madame Delaby, dass ExxonMobil alle Arbeiter entlassen könnte. In einer Region, wo die Arbeitslosigkeit mit 20 Prozent fast doppelt so groß ist wie im Rest Frankreichs, ist jede verlorene Stelle eine Katastrophe.

In den Arbeitersiedlungen des Pas-de-Calais leben die Menschen seit Jahrhunderten mit dem Risiko. Jeder hat Männer in der Familie, die irgendwann nicht mehr „nach oben“ gekommen sind, weil es „unten“ einen Unfall gegeben hat. Und Opas, Väter und Onkel, die die letzten Tage und Nächte ihres Lebens röchelnd am Küchentisch sitzen. Ihre Lungen sind so voller Staub, dass sie nicht mehr genug Luft bekommen, um sich hinlegen zu können. Zum Pas-de-Calais gehören die „Staublungen“ dazu. Wie die Solidarität, das Klassenbewusstsein und der Katholizismus.

Auch Gérard Martin hat in seinen 27 Jahren unter Tage einen Teil seiner Lunge eingebüßt. Für den 73-jährigen Rentner ist das eine Zahl: „20 Prozent“. Und eine Art Selbstverständlichkeit. Schließlich haben auch seine Cousins Staublungen. Er betrachtet sich als „kerngesund“. Weswegen er auch kein bisschen beunruhigt war, als im Dezember der Husten begann – bloß etwas erstaunt, weil er grippegeimpft war. Selbst Tage später, als er schon mehrfach das Gleichgewicht verloren hatte und nur ganz langsam wieder auf die Beine gekommen war, ging er nicht zum Arzt. Zum Glück mischte sich seine Tochter ein. Weihnachten wurde Monsieur Martin gegen seinen Willen ins Krankenhaus eingeliefert. Es war der allerletzte Moment. Noch am selben Tag bekam er die nötigen Antibiotika. Zu Neujahr besuchte ihn der Gesundheitsminister. Hinter Jean-François Mattei drängten Journalisten in das Klinikzimmer. Am Abend flimmerte das freundliche Gesicht von Monsieur Martin über die Bildschirme. Es sollte zeigen, dass man die Legionärskrankheit auch überleben kann.

Inzwischen ist Monsieur Martin wieder zurück in seinem roten Backsteinhaus in Wingles. Er betreut seine schwerkranke Frau. Er arbeitet wieder in seinem Gemüsegarten, der nur sechs Kilometer von den Kühltürmen entfernt liegt. Es geht ihm „jeden Tag besser“. Er macht den Ärzten Komplimente für ihre „fantastische Arbeit“. Und er empfindet kein bisschen Wut.

Für Monsieur Martin ist die Sache erledigt. Eine Klage? „So was kann doch überall mal passieren.“ Die Schließung der Noroxo-Fabrik? Auf gar keinen Fall. Monsieur Martin sagt: „Wir haben doch wirklich schon genug Arbeitslose.“