Kein Vogel soll sich rühren

René Jacobs dirigiert Claudio Monteverdis „Orfeo“ an der Berliner Staatsoper, als sei die Oper gestern entstanden

Was ist Musik? Das zum Beispiel: Posaunen im Rücken des Publikums. Vom ersten Rang herab füllen sie den Raum mit ihren Tönen, die so vertraut erscheinen und dann doch ganz neu klingen. Die eng mensurierten, dem historischen Vorbild nachgebauten Instrumente schmettern nicht, sie lassen die Harmonien des einfachen Satzes wie von innen aufleuchten, lassen die zugleich rauen und zarten Interferenzen ihrer reichen Obertöne nachklingen. Dieses kleine Wunder allein ist schon Grund genug, hierher zu kommen.

Einer kommt wirklich zu spät. Er hastet auf die Bühne, in Hut und Anzug, aber ohne Schlips, einen Packen Notenblätter in der Hand. Nervös kaut er auf dem Stift herum, mit dem er sie vollgeschrieben hat, dann verteilt er das Papier an den Dirigenten und die Musiker. Angestrengte, ängstliche Erwartung steht in seinem Gesicht. Es entspannt sich erst, wenn René Jacobs den Taktstock hebt und ein festlicher Tanz beginnt: gelungen. Selig lächelnd wiegt sich der Mann im Takt; er setzt sich auf den Stuhl, der mitten auf der Bühne für ihn reserviert ist. Er schreibt schon wieder Noten, so viel Musik muss noch erfunden werden, nie zuvor gehörte, wie diese hier.

Genau 397 Jahre alt ist die Partitur tatäschlich, mit der die Berliner Staatsoper ihre diesjährigen Barocktage eröffnet hat. Viel zu lange war die „alt“ genannte Musik des 17. Jahrhunderts ein reservierter Bezirk für verbiesterte Spezialisten auf beiden Seiten der Rampe, bei den Ausführenden wie im Publikum. In Berlin soll die barocke Oper nun offenbar den festen Platz im Spielplan bekommen, der ihr zukommt. Die Aufführung von Monteverdis „Orfeo“ wird unter der Leitung von René Jacobs ohne jede historisierende Schulmeisterei zum bewegenden Erlebnis eines buchstäblich unerhörten Aufbruchs in ein neues Zeitalter. Dass es davor nichts Vergleichbares gab, ist nicht nur im Programm zu lesen, es ist zu hören.

Regisseur Barrie Kosky – letzten Sommer hat er Ligetis eigentlich unspielbaren „Grand Macabre“ an der Komischen Oper über die Bühne gerettet – und Bühnenbildner Klaus Grünberg lassen die antikisierenden Hirten des Librettos als fröhliche Gesellschaft junger Leute von heute auftreten. Angestellte könnten sie sein, Orpheus ist einer von ihnen, der Mann mit den Noten, und er unterhält sie glänzend mit seinen Liedern. Doch die geliebte Eurydike stirbt am Schlangenbiss, und ein Stück Musik beginnt, das wahr macht, was der Prolog als ästhetisches Programm verkündet. Die allegorische Figur der „Musica“ diktiert dem Komponisten-Orpheus in seine Notenblätter, „kein Vogel solle sich rühren“, wenn sie „mal freudig, mal traurig“ zu singen beginne.

So geschieht es. Atemlose Stille, das kurze Duett zwischen der Botin der schlimmen Nachricht und Orpheus verschmilzt Lyrik, Melodie und Harmonie so vollkommen zum Gefühl elementaren Leides, wie es in der Oper vielleicht nie wieder erreicht worden ist. Die Intensität dieses Augenblicks ist in der beinahe kühlen Interpretation von Stéphane Degout (Orpheus) und Marie-Claude Chappuis (Botin) kaum zu ertragen.

Das also ist Musik. Die Tote aus der mythischen Unterwelt zurückholen kann sie nicht, so erzählt es auch Monteverdis Librettist, aber Ausdruck jeder menschlichen Regung, des Triumphs wie des Versagens, des Glücks wie der Verzweiflung, das soll sie sein. Und sie ist es, wenn sie denn so aufgeführt wird, wie es die Chorsänger, Solisten und Instrumentalisten an der Berliner Staatsoper können. Der Raumwirkung wegen hat Monteverdi gleich zwei Orchester verlangt. Ob sie nun vor, hinter oder auf der Bühne sind: Sie hören sich alle selber zu. Das wohl erklärt am ehesten die Präzision und Klangschönheit, mit der sie dieses Werk erklingen lassen, als sei es eben gerade geschrieben worden. NIKLAUS HABLÜTZEL

Claudio Monteverdi: „Orfeo“. Leitung: René Jacobs, Regie: Barrie Kosty; Akademie für Alte Musik, Vocalconsort Berlin, Concerto Vocale, Staatsoper Berlin, 19., 21., 23., 25., 27., 28. Januar 2004