Eine Katastrophe in Zeitlupe

Ab sofort kostet das Maut-Debakel 180 Millionen Euro monatlich – doch trotz dieser Niederlage für das Projekt der ökologischen Moderne geht niemand auf die Barrikaden

Die Chance für den Export eines modernen Road-Pricing-Systems made in Germany ist verspielt

Die Lkw-Maut galt lange als echtes Vorzeigeprojekt. Sie war der verkehrspolitische Stolz der rotgrünen Bundesregierung und wurde immer wieder mit entsprechendem Pathos vorgestellt. Ulrich Schüller, Leiter der Grundsatzabteilung im Verkehrsministerium und zugleich der verantwortliche Mann für die Verhandlungen mit Toll Collect, präsentierte die Maut wie eine revolutionäre Tat, als Einstieg in das neue gebührenfinanzierte Zeitalter der Verkehrspolitik. Ganz Europa werde den Deutschen bei der Einführung penibel auf die Finger sehen, sagte er noch im Frühjahr 2002 vor deutschen Verkehrsexperten, „wir dürfen uns nicht den geringsten Fehler erlauben“. Die Maut, so Schüller weiter, sei nicht nur der Durchbruch bei der Nutzerfinanzierung, sie sei auch „ein Meilenstein europäischer Verkehrspolitik – wir setzen hier Maßstäbe“. Als Starttermin nannte Schüller den 1. Juli 2003. Und keiner hat gelacht.

20 Monate später ist die rot-grüne Revolution gegen die Wand gefahren. Ulrich Schüller ist krank. Und die übrigen Herren im Ministerium orakeln gemeinsam mit ihrem Vorsteher Manfred Stolpe, ob das satellitengestützte System aus dem Tollhaus nun im Sommer 2005 (!) kommen wird oder ob doch schon das Laub fällt, wenn die Weltfirmen DaimlerChrysler und Telekom im übernächsten Jahr endlich in die Strümpfe kommen. Es ist eine Katastrophe in Zeitlupe. Die Horrornachrichten tröpfeln langsam und beständig wie Regentropfen aus den Konzernzentralen. Immer wieder tauchen neue technische Probleme auf; immer wieder werden die Starttermine verschoben wie der Weltuntergang bei den Doomsday-Jüngern; hinzu kommen millionenschwere Beraterverträge und ein hilfloser, nur noch peinlicher Minister. Inzwischen sind die Einnahmeverluste für den ohnehin klammen Etat bei 180 Millionen Euro angekommen. Monatlich! Getoppt wird dieser Betrag nur noch durch die noch höhere Zahl an technischen Mängeln, an denen die Hightech-Maut unserer beiden Weltfirmen laboriert.

Vieles an diesem Skandal ist erstaunlich. Am meisten überrascht, mit welch coolem Gemütsmix aus Amüsement, Ignoranz und Schafsgeduld die Öffentlichkeit das Debakel erträgt, ohne ernsthaft Druck zu machen. „Posse“ ist der am meisten gebrauchte Ausdruck. Ganz so, als ginge es um die Putzfrau von Exverkehrsminister Krause. Die Dauerkrise provoziert bestenfalls noch eine halbe Portion Routineempörung. Idioten im griechischen Sinne dominieren die öffentliche Rezeption. Dabei wird gern übersehen, dass diese Mautposse eine schwere Niederlage für die ökologische Moderne bedeutet. Jahrzehntelang hat die gesellschaftliche Restvernunft eine Schwerverkehrsabgabe verlangt. Jetzt, wo die Maut endlich kommen soll, ist sie zur großen Blamage geraten. Nach der Ökosteuer wird damit ein weiteres ökologisches Schlüsselinstrument diskreditiert. Vom Dosenpfand gar nicht zu reden. Aus unterschiedlichen Gründen gelingt es dieser Regierung nicht, ihre ökologischen Lenkungsinstrumente mit einem positiven Image zu besetzen. Umweltpolitik läuft ein ums andere Mal auf Grund.

Das Mautdebakel ist aber mehr: Es ist auch ein wirtschaftlicher Flop – das Ende aller Exportchancen für ein modernes Road-Pricing-System made in Germany. Nur Kamikazeflieger werden das deutsche Mautwesen jetzt noch einkaufen wollen. Zur selben Zeit, da der Kanzler in jedes Mikrofon von Innovationen, Eliten und neuem technischen Aufbruch trötet, setzen zwei unserer Elitefirmen die wichtigste technische Innovation der Regierung Schröder gründlich in den Sand. Hat es ihrem Aktienkurs geschadet? Sind sie unter Druck geraten? Werden die verspielten Exportchancen für diesen „Meilenstein europäischer Verkehrspolitik“ thematisiert?

Auch die durchaus dramatischen ökologischen und sozialen Folgen des Mautabsturzes tauchen nirgendwo auf. Dabei hat niemand so sehnsüchtig auf die Maut gewartet wie die Bahn. Mautkosten für Lkws wären ein wichtiger Beitrag dafür gewesen, die dramatischen Wettbewerbsnachteile der Schiene zu reduzieren. Stattdessen wird der Laster nach dem Wegfall von Vignette und Maut so stark subventioniert wie nie zuvor. Das Mautdebakel hat den Lkw erst richtig fett gemacht, die Bahn ist chancenlos. Die Lasterbranche kann ihr Glück denn auch kaum fassen und expandiert derzeit auf Hochtouren, zumal mit der EU-Osterweiterung ein neuer riesiger Transportkuchen auf sie wartet. Zuwächse bis zu 40 Prozent bis zum Jahre 2010 werden den ungetümen 40-Tonnern in Aussicht gestellt. Das Mautfiasko fällt mitten in eine entscheidende verkehrspolitische Phase, in der die Weichen für die Zukunft gestellt und der Modal Split neu fixiert wird. Sage niemand, die staatliche Mästung des Lastwagens ließe sich so leicht wieder korrigieren. Schon hat Ungarn angekündigt, sein Schnellstraßennetz bis 2006 zu vervierfachen. Nur Moralisten reden noch von Luftverpestung, Lärmseuche und den jährlich 40.000 Verkehrstoten in der EU. Dass ein Lkw so viele Straßenschäden macht wie 60.000 (!) Autos, ist eine andere hübsche Zahl.

In Deutschland stolpern Verkehrsminister über ihre Putzfrau – nicht über Lappalien wie eine Schwerverkehrsabgabe

Solche Zusammenhänge spielen indes in der Mautdebatte keine Rolle. Ebenso erstaunlich ist, dass sich die zaudernde Mautmutter Manfred Stolpe noch im Amt halten kann. Die Mautverträge wurden zwar unter Vorgänger Kurt Bodewig ausgehandelt. Aber es ist Stolpe, der sich von Toll Collect einmal die Woche widerstandslos den Ring durch die Nase ziehen und quer über die Kriechspur schleifen lässt. Vor Weihnachten hatte er kurz die Muskeln gezeigt und – Hurra! – einen verbindlichen Starttermin für die Maut gefordert. Auch von Strafanzeige und Vertragskündigung war plötzlich die Rede. Wenige Tage später kuschte Sankt Olpe, wie der pastorale Minister im Hause gern genannt wird, und verlängerte großmütig sein Ultimatum. Stolpe schreckt noch immer vor dem harten Schnitt einer Neuvergabe der Mauterfassung zurück. Er hat sich Toll Collect damit vollständig ausgeliefert. Jetzt wartet er artig, bis sich das Konsortium herablässt, neue Terminvorschläge zu nennen. Noch im Dezember hatte Klaus Mangold, Chef von DaimlerChrysler Services, erneut alle Schadenersatzforderungen frech zurückgewiesen, um dem erstaunten Publikum ganz Neues zu verkünden: „Die Maut braucht mehr Zeit, als wir uns vorgestellt haben.“ Und niemand hat ihm den Arsch versohlt.

Stolpe denkt unterdessen über die Wiedereinführung der Vignette nach. Lang hat er diese nahe liegende Alternative stur und empört zurückgewiesen. Jetzt bleibt ihm zur Schadensbegrenzung kaum etwas anderes übrig. Zugleich muss er zugeben, dass entgegen früheren Äußerungen die Verkehrswegeplanung wegen der milliardenschweren Einnahmeverluste bedenklich wackelt. Es gibt hundert Gründe, den schwächsten Verkehrsminister seit Lau Lauritzen aus dem Amt zu jagen. Doch diejenigen, die eigentlich Druck machen müssten, sitzen selbst am Katzentisch der Macht und beißen nervös auf den Fingernägeln. MANFRED KRIENER