Surfende Citoyens für Barack Obama

Barack Obama nutzt wie kein anderer vor ihm den Cyberspace als Raum politischer Mobilisierung. Der US-Wahlkampf – eine kleine Medienrevolution? Tobias Moorstedt fragt nach dem Einfluss des Netzes auf den demokratischen Prozess

It’s the web, stupid“, kann in Abwandlung eines berühmten Wahlslogans von Bill Clinton behauptet werden, falls Barack Obama tatsächlich am Dienstag das Weiße Haus für die Demokraten zurückerobert.

In seinem Buch „Jeffersons Erben“ berichtet Tobias Moorstedt von einer Renaissance politischen Engagements in den USA, die wesentlich im virtuellen Raum stattfindet. So effektiv wie kein Politiker vor ihm, vermag es Barack Obama, die surfenden Citoyens mit allen Werkzeugen und Anwendungen, die der Cyberspace derzeit bietet, für seine Kampagne zu gewinnen und einzuspannen. Weshalb Moorstedt ihn vorauseilend in eine Reihe der großen Präsidenten wie Andrew Jackson, Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy stellt, die Umwälzungen in der Kommunikationstechnologie intuitiv verstanden und für sich zu nutzen wussten.

Die dezentralen, flexiblen Strukturen des digitalen Politaktivismus beschreibt Moorstedt aber als weit davon entfernt, bloße Unterstützerplattform für den jeweils netzaffinsten demokratischen Präsidentschaftskandidaten zu sein. Vielmehr geht es generell um das Aufbegehren gegen verkrustete Institutionen, um die Ausweitung von politischer Partizipation mit Hilfe der neuen Medien. Als Ahnherr der meist jungen, ambitionierten Agenten einer „e-democratization“ der US-Gesellschaft führt Moorstedt keinen Geringeren als Thomas Jefferson, einen der Gründerväter der USA, an. Der betrachtete Zufriedenheit mit den Herrschenden als Zeichen von Lethargie und hielt eine starke Bürgerbeteiligung als unabdingbar für eine funktionierende Demokratie.

Es ist durchaus lohnenswert, Moorstedt durch Vorstadtstraßen in Houston oder Bürofluchten in Washington zu folgen, wo er Eli Pariser traf, den Macher von MoveOn, Amerikas größter Wähler-Vollversammlung im Netz, die progressive Kandidaten für Senat und Repräsentantenhaus unterstützt. Er sprach mit Jane Hamsher, die mit ihrem Blog „Firedoglake“ den Gesetzgebern auf die Finger schaut, und mit Amanda Michel, die als Chefin vom Dienst bei „Off the Bus“, einem Projekt der Netzzeitung Huffington Post, die Wahlberichterstattung tausender ehrenamtlicher Mitarbeiter bündelt.

Das Versagen der Wächterfunktion von Presse, Funk und TV in der vergangenen Dekade habe den Cyberspace zum Raum politischer Mobilisierung liberal gesinnter Amerikaner anschwellen lassen. So versäumten es die Vertreter der analogen Medien, bei George Bushs zweifelhaftem Wahlsieg von 2000 kritisch nachzuhaken, um sich dann im Irakkrieg bereitwillig in die neokonservative Propaganda „einzubetten“. Seit Jahrzehnten, so zitiert Moorstedt Jay Rosen, einen Mentor des „citizen journalism“, beschränke sich die Berichterstattung von Zeitungen und Fernsehen in Wahlkämpfen auf die Beurteilung von Strategie und Taktik der Kandidaten. Der Triumph-Niederlagen-Semantik des Sports frönend, würde sie praktisch kein Wort über die politischen Programme der Bewerber verlieren.

Vorbei jedoch die Zeiten, in denen der Medienkonsument zur Hinnahme eines lückenhaften, asymmetrischen Informationsflusses gezwungen war. Moorstedt sieht mit dem Internet die Brecht’sche Utopie, in der sich das Radio vom Distributions- zum Kommunikationsapparat wandelt, verwirklicht. Und jene Amerikaner, die von der kriegerischen Herrschaft der Republikaner aus ihrem fröhlichen Hedonismus der 90er-Jahre gerissen wurden, die plötzlich Stellung in einer polarisierten US-Gesellschaft beziehen mussten, waren mit ihren Blogs die ersten, die das Experiment der digitalen Interaktion erfolgreich auf seine Massentauglichkeit für die politische Auseinandersetzung prüften.

Obwohl Moorstedt der Kritik, Webplattformen wie MoveOn würden lediglich einen systemstabilisierenden „Fünf-Minuten-Aktivismus“ evozieren, entgegenhält, dass diese aber den Nutzern das Gefühl geben könnten, mit nur einem Klick entscheidenden Einfluss zu nehmen und so vielleicht als Einstieg in eine stärkere Teilnahme am politischen Geschehen dienten, möchte er nicht ganz vorbehaltlos in einen Jubel über den Anbruch der e-demokratischen Ära fallen.

Er stellt fest, dass sich zum Beispiel die Dynamik von MoveOn in der Hauptsache aus Empörung über klare Feindbilder wie George Bush speist. Ein klares Gut-Böse-Schema pflegen auch die meisten politischen Blogs. Sie schaffen homogene Communities, in denen wenig Toleranz für konträre Positionen herrscht. Laut manchem Webkritiker, so Moorstedt, sei in der Blogsphäre längst der digitale Bürgerkrieg ausgebrochen.

Auch innerhalb des Web-basierten Politaktivismus hat sich ein Starsystem herausgebildet, in dem, wenngleich noch instabil, Aufmerksamkeit hierarchisch verteilt wird. Mit der Wahl seiner Gesprächspartner steckt Moorstedt schließlich selbst so etwas wie die VIP-Lounge der Cyberspace-Liberalen ab, von denen einige sich für den virtuellen Wahlkampf Barack Obamas haben rekrutieren lassen.

Der kündigte an, im Falle seiner Wahl in einer „googlebaren“ Datenbank die Ausgaben der Regierung zu veröffentlichen, den Bürgern bei Online-Fireside-Chats zu erklären, wie seine Politik funktioniert, und Gesetzentwüfe einige Tage lang zur freien Kommentierung ins Netz zu stellen. Wird er, so fragt der Autor, tatsächlich der erste Präsident der digitalen Demokratie sein, oder könnte er sich am Ende doch als „ganz normaler“ Politiker herausstellen, der den Willen zu Transparenz und Kommunikation der Sorge um den Machterhalt unterzuordnen bereit ist?

Ein erster Hinweis darauf, dass die Netz-Aktivisten, die Obamas Kandidatur befeuert haben, ihre Ressourcen auch gegen ihn wenden können, gab die Senatsabstimmung zur Überwachung von Telefongesprächen, E-Mail-Kommunikation und anderen Datenübertragungen im vergangenen Juli. Im Interesse der nationalen Sicherheit wollte Obama für den Mega-Lauschangriff stimmen. Nicht nur, dass sich auf Obamas Wahlkampfwebpage mybarackobama.com eine Gruppe namens „Please vote no“ formierte, die innerhalb einer Woche auf mehr als 20.000 Mitglieder anwuchs. Es bildete sich eine Allianz aus linker Community und konservativen Bloggern, die mehrere hunderttausend Dollar für eine Kampagne gegen das Abhörgesetz sammelten.

Gerade weil Moorstedt in solchen ad-hoc-Koalitionen die Zukunft vernetzter Politik sieht, erweist sich als Schwachstelle seines Reports, dass er die rechte Hälfte des politischen Cyberspace lediglich am Rande streift.

Die traditionelle Gegnerschaft der Konservativen zu bundesstaatlichen Eingriffen in lokale und private Belange wird sich in der Post-Bush-Ära sicherlich stimmig durch die dezentralen Strukturen des Internet wiederbeleben lassen – erst recht, wenn in Washington ein schwarzer Demokrat mit einer politischen Agenda des sozialen Ausgleichs sitzt. Es wäre interessant zu erfahren, wer welche Geschütze dafür im Netz jetzt schon in Stellung gebracht hat.

OLIVER POHLISCH

Tobias Moorstedt: „Jeffersons Erben. Wie die digitalen Medien die Politik verändern“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 165 Seiten, 9 Euro