Das finstere Gesicht des Januars

Rainer Schüttler verliert bei den Australian Open, wo er im letzten Jahr noch für jede Menge Aufsehen sorgte, schonin der ersten Runde gegen den jungen Schweden Robin Söderling und hat erst einmal keine Lust mehr auf Tennis

AUS MELBOURNE DORIS HENKEL

Er ist keiner, der sich gern in die Seele blicken lässt, aber um ihn diesmal zu verstehen, genügt ein Minimum an Einfühlungsvermögen. Die Niederlage am ersten Tag der Australian Open 2004 gegen den jungen Schweden Robin Söderling (6:4, 6:4, 5:7, 3:6, 4:6) ging Rainer Schüttler so sehr an die Nieren, dass er am liebsten alles stehen und liegen gelassen hätte und irgendwo in der Weite Australiens verschwunden wäre. An der Stelle des bisher größten Erfolges seiner Karriere mit dem Finale vor einem Jahr erlebte er lähmende Momente der Hilflosigkeit, und nach der dritten Niederlage im dritten Spiel dieses Jahres fasst er die Geschehnisse so zusammen: „Schlimmer kann’s nicht werden. Der Monat Januar war ein einziger Alptraum.“

Das Spiel entglitt Schüttler, als der Sieg unmittelbar bevorzustehen schien: Ein nicht verwandelter Breakball beim Stand vom 6:4, 6:4, 5:5, direkt danach der überraschende Satzverlust, und dann ging’s mit zunehmender Geschwindigkeit bergab. Im fünften Satz, als es darauf angekommen wäre, gegen den talentierten, aber relativ unerfahrenen Gegner Stärke zu demonstrieren, wirkte Schüttler so planlos, so wirr wie lange nicht mehr.

Es war die Phase, in der Trainer Dirk Hordorff aus lauter Verzweiflung über die Ereignisse das Rauchverbot in der Rod-Laver-Arena ignorierte und hinter vorgehaltener Hand nervös an der Zigarette sog. Später meinte er zu der Art, wie Schüttler am Ende gespielt hatte: „Böswillig gesagt, war das ein Ausdruck seiner Hilflosigkeit, mit gutem Willen kann man sagen: er hat wenigstens noch was probiert. Aber es war ein Spiel, das er nicht hätte verlieren dürfen, nicht hätte verlieren müssen.“

Hordorff ist ratlos, Schüttler ist ratlos. Der findet einfach keine Erklärung dafür, warum er sich im Training großartig fühlt und gegen nahezu jeden gewinnt, im Ernstfall des Spiels zur Zeit aber selbst die besten Chancen nicht nutzen kann. Irgendwie erinnert die Geschichte an die Probleme der europäischen Raumfahrttechniker, die glauben, bei der Vorbereitung ihres Mars-Projektes alles richtig gemacht zu haben, und die trotzdem seit Wochen vergeblich auf ein Zeichen ihres Roboters „Beagle 2“ warten. Lost in space, Roboter und Rainer 1.

Was Deutschlands bester Tennisspieler zu Beginn des Jahres 2004 erlebt, ist eine Kombination aus mehreren Faktoren. Im Dezember, am Rande eines Einladungsturniers in St. Anton am Arlberg, hatte Schüttler noch versichert, er fühle sich prima; keine Spur von Erschöpfung nach der längsten und erfolgreichsten Saison seiner Karriere mit 101 Spielen, ungebrochen die Lust aufs Tennisspiel.

Vielleicht war die Pause nach dem Masters Cup Mitte November in Houston lange genug, um den Körper regenerieren zu lassen, aber der Geist lässt sich nicht in vergleichbarer Weise kontrollieren, und offensichtlich war der noch nicht wieder bereit für die nächsten Runden in der Umlaufbahn des Planeten Tennis. Außerdem: Wie es wohl ist, mit Niederlagen im Gepäck zum ersten großen Turnier des Jahres zu fahren, dort jeden Tag an die traumhafte Reise des vergangenen Jahres erinnert zu werden und sich insgeheim zu fragen: Schaff ich das noch mal?

In seiner grenzenlosen Enttäuschung über das Spiel und die Niederlage gegen Söderling fand Schüttler unmittelbar danach in der Kabine selbst im bewährten Zusammenhalt mit Hordorff, dem Physiotherapeuten Alex Stober und Freund Lars Burgsmüller kaum Trost. Und auch der Hinweis, selbst einer wie Boris Becker habe ein Jahr nach dem Sieg in Melbourne (1996) im Jahr darauf in der ersten Runde verloren, hätte ihm nicht hel- fen können. Aber der erste Impuls, wegzurennen und für eine Weile nichts mehr sehen zu wollen von diesem Spiel, ist womöglich genau das, was er jetzt braucht.

Nach den Australian Open hatte er bis zum nächsten Turnier in Rotterdam Mitte Februar ohnehin zwei Wochen Pause eingeplant, nun sind daraus mehr als drei geworden, und falls das immer noch nicht reichen sollte, um frische Kraft zu sammeln, dann kann es sein, dass sich Rainer Schüttler eine noch längere Auszeit gönnen wird. „Ich werde erst wieder Tennis spielen, wenn ich wirklich Lust dazu habe“, sagt er. Lustverlust ist kein schönes Gefühl; letztlich ist es doch einfacher, Mars-Roboter zu sein.