40 jahre abitur von FANNY MÜLLER
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Als wir uns dem alten Schulgebäude näherten und schon einige Frauen vor der Tür warteten, dachte ich: „O Gott, was für alte Weiber!“ Nun ja – und ich gehörte zweifellos dazu. Das war nicht schön. Wir waren gekommen, um unser 40. Abitur-Jubiläum zu feiern, aber die Namen kriegte ich nicht mehr mit den Gesichtern zusammen.

Als wir in der 10. Klasse waren, wurde die Schule von „Gymnasium für Mädchen“ umbenannt in „Vincent-Lübeck-Schule“. Unsere heiß geliebten Kunstlehrerinnen hatten für Paula Modersohn-Becker gestimmt, aber die Musiklehrer hatten wohl bessere Karten. War da nicht irgendwas mit Paula? Was für junge Mädchen nicht geeignet war? Und war Lübeck nicht schon Jahrhunderte tot, und was uralt ist, ist sowieso besser? Gut Dreiviertel der Lehrerinnen hatten übrigens ihre Ausbildung vor oder während des Faschismus absolviert und bereits meine Mutter unterrichtet, alte Jungfern mit einem „von“ vor ihren Familiennamen und alle, mit wenigen Ausnahmen, fulminante Schreckschrauben. Die Schülerinnen hatten in Schulangelegenheiten nichts zu melden; nicht außergewöhnlich Ende der Fünfzigerjahre und noch kein Grund zum Aufruhr.

An Herrn P. (Französisch) erinnere ich mich gut – der sammelte alle Fetzchen Papier ein, die wir heimlich weitergaben, und las sie bei der Abiturfeier vor. „A propos, ich möchte jetzt heiraten“, hatte ich geschrieben. Kurz vorher ging die Hochzeit der 15-jährigen Ira von Fürstenberg durch die Zeitungen … Das war die Zeit, in der ich meinen ersten Roman schrieb, der aber leider unter der Bank liegen geblieben und vom Hausmeister auf den Müll geschmissen worden war. Darin kamen vor allem Internatsschülerinnen namens Melanie und Valerie vor. Das schien mir höchst exotisch zu sein, wenn man mal unsere eigenen Namen betrachtete: Inge, Monika, Helga, Gudrun … Als ich mündlich in Politik geprüft wurde – oder wie das damals auch immer hieß –, wurde ich von der Oberschulrätin gefragt, auf was denn der neue Präsident der Vereinigten Staaten (Kennedy) geschworen hätte. „Auf die Bibel“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Naja“, sagte sie, „und auf was denn noch?“ Neben und hinter ihr standen sämtliche Lehrer und Lehrerinnen in prima Solidarität und ich las es ihnen von den Lippen ab: „Ver-fas-sung“. Darauf wäre ich nie gekommen. Und sonst? Beim Kaffeetrinken nach 40 Jahren gab es jede Menge Klatsch: Regine war in den Bruder von Sabine verliebt und ging in einen Fechtclub, um ihm näher zu kommen. Auf die Art und Weise hat sie dann übrigens später noch Segeln und Skifahren gelernt. „ … und was macht eigentlich Dings? Hatte die nicht Magersucht und ist dann mit ’ner Bauchtanzgruppe nach Südamerika ?“ – „Nee, das war ihre Schwester.“ Karola hielt 1961 die Abiturrede, die sich auf einen Spruch des Konfuzius bezog: Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu wandeln: erstens durch Nachahmen, das ist der leichteste, zweitens durch Nachdenken, das ist der edelste, drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.

Den dritten Weg sind wir inzwischen alle gegangen.