Iraks Schiiten setzen auf die UNO

Religiöse Vertreter der größten Bevölkerungsgruppe des Zweistromlands fordern direkte Wahlen. Damit wenden sie sich gegen Pläne der USA, eine Übergangsregierung zu installieren. Fast hunderttausend Menschen gehen dafür auf die Straße

AUS BAGDAD KARIM EL-GAWHARY

Es war eine Demonstration der Macht des geistlichen Führers der irakischen Schiiten, Ajatollah Ali al-Sistani. Fast hunderttausend Menschen sind am Montag seinem Aufruf gefolgt, in Bagdad friedlich für eine demokratisch gewählte irakische Regierung auf die Straße zu gehen. „Nur direkte Wahlen könnten die Legitimität der nächsten irakischen Regierung gewährleisten“, hatte Sistani vor einer Woche erklärt. Damit stellte sich der oberste schiitische Geistliche im Irak direkt gegen amerikanische Pläne, bis zum 1. Juli eine irakische Übergangsregierung zu bilden.

Danach sollen deren Mitglieder in 18 Provinzversammlungen gewählt werden. In jeder Provinzversammlung soll es 15 Wahlberechtigte geben. Fünf werden in jeder Provinz von dem derzeitigen Regierungsrat bestimmt, fünf weitere ernennt der derzeitige Provinzrat, die letzten fünf sollen aus den Räten der fünf größten Städte in der jeweiligen Provinz ernannt werden. Der Clou dabei ist, dass alle diese drei Gremien zuvor von den US-Besatzungsbehörden entweder bestimmt oder zumindest abgesegnet worden sind.

Unter dem Banner „Ja zu Wahlen und nein zur Besatzung“ forderten die Demonstranten in Bagdad gestern, dass sowohl die nächste Regierung als auch die verfassungsgebende Versammlung in allgemeinen Wahlen bestimmt werden sollen. „Wir wollen nicht den gleichen Fehler wiederholen und erneut ein Gremium bestimmen, das wie der jetzige Regierungsrat in den Augen der Iraker keinerlei Legitimität besitzt“, erklärt Scheich Kiassem Madschali, einer der Organisatoren der gestrigen Demonstration. Das, meint er, verlängere nur die unsichere Lage.

Das Argument, für die Organisation der Wahlen gebe es nicht genug Zeit, will er nicht gelten lassen. „Wir sollten uns genug Zeit nehmen, denn wir wollen unsere Unabhängigkeit auf einer soliden Basis aufbauen. Was falsch anfängt, wird falsch weitergehen“, befürchtet er.

„Jede ernannte Regierung wird für Zweifel sorgen und kann leicht angegriffen werden“, argumentiert Humam Hamudi, politischer Berater des Chefs des Obersten Rates für die Islamische Revolution (Sciri), Adel Asis al-Hakim. „Das ist weder im Interesse der Iraker noch der amerikanischen Besatzer.“ Damit sei eine gewählte irakische Regierung nicht nur im Interesse der schiitischen Bevölkerungsmehrheit, sondern aller Iraker, sagt er. Darin wären trotz schiitischer Mehrheiten auch alle anderen Volksgruppen angemessen vertreten, sodass sie nicht ignoriert werden könnten.

Auch Hamudi verwirft das Zeitargument. Zwei Monate nach dem Sturz Saddams hätten UN-Berater davon gesprochen, dass es möglich wäre, innerhalb von neun Monaten Wahlen zu organisieren. Damals sei die Sicherheitslage noch wesentlich chaotischer gewesen als heute. Während gestern Abend in New York über eine mögliche neue Rolle der UNO im Irak diskutiert wurde, hofft Hamudi in Bagdad auf eine stärkere und unabhängige Rolle der UNO. Die UNO sollte den gesamten politischen Prozess im Irak überwachen. „Wenn der schwache irakische Regierungsrat und die Supermacht USA über die Zukunft des Irak verhandelt, wird eine dritte Partei benötigt, um das Ungleichgewicht auszubalancieren, und genau das ist die Rolle, die die UNO spielen sollte“, sagt der schiitische Politiker.

Die Europäer, besonders Frankreich, Russland und Deutschland, könnten dafür sorgen, dass die UNO einen von den US-Besatzern relativ unabhängigen Standpunkt einnimmt, denn nur dann besäße die Weltorganisation in den Augen der Iraker Legitimität. So könnte sich vielleicht auch die ganze Frage um eine gewählte oder ernannte irakische Regierung lösen.

„Die Amerikaner wollen bestimmen, weil sie sagen, es gebe nicht genug Zeit, um Wahlen zu organisieren, die meisten Iraker wollen wählen“, fasst Hamudi das Problem zusammen. „Lasst die UN-Experten erklären, was möglich ist“, fordert er. Wenn es darum geht, unser Land wieder aufzubauen, meint er, „kommt es auf ein paar Monate Besatzung mehr oder weniger auch nicht mehr an“.