strübel & passig
: Die Abhängigen

Warum weinen und schreien Säuglinge, sobald sie wach sind? Ganz klar: Sie beschweren sich bitterlich über ihre andauernde Unmündigkeit – und die schiere Unmöglichkeit, sich einfach mal eben ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

 Ganz ähnlich verhalte ich mich den Dingen gegenüber, auf die ich angewiesen bin. Die Bahn verfluche ich regelmäßig. Hat mein Handy kein Netz, kann jeder, der in der Nähe steht, seinen Wortschatz um interessante Schmähvokabeln erweitern. Und ich fange hemmungslos an zu greinen, wenn ich zur Bank muss, weil ich so viel Inkompetenz, Wucher und pfiffige Brillen auf einmal nicht ertragen kann. Das schöne an diesen Leiden ist: Jeder nickt verständnisvoll. Denn wenn alle von etwas abhängig sind, handelt es sich offensichtlich nicht um eine Sucht, sondern um eine Mitgefühlsmehrwert generierende Gegebenheit.

 Mit anderen Abhängigkeiten sieht es da schon anders aus. Was wurde mir da nicht schon alles unterstellt. Süchtig sei ich. Nach Schuhen; Drogen; Schokolade; Büchern; Zigaretten; Arbeit. Man sorgte sich quer durch den Katalog. Am schlimmsten aber: „dieses Internet“. Meine wenig computerversierten Freunde verstehen nicht, wie man so viel Zeit am Rechner verbringen kann. „Was das kostet!“, rufen sie. „Flatrate“, murmle ich unberührt. „Aber deine Freunde!“, schimpfen sie. „Wenn ich dir nicht regelmäßig mailen würde, hätten wir schon längst keinen Kontakt mehr“, erkläre ich grimmig. „Siehst du! Du bist ja süchtig!“, bricht es aus ihnen heraus. Und ich breche zusammen.

 Dabei hat alles ganz harmlos angefangen: Mit einem klapprigen Modem wählte man sich in den Uni-Server ein, und die Hauptfreude daran war, dass das alles überhaupt funktionierte. Wenn ich damals Internet sagte, schauten meine Freunde irritiert. „Das ist doch wieder so eine Mode. Wie Tamagotchi! Oder Discoroller!“, riefen sie. Wenn ich Chat erwähnte, frugen sie: „Wie, Chat? Baker?“, und ich wechselte das Thema. Heute schicken sie mir Bürowitzmails oder Aufforderungen, die Grünen zu wählen, forwarden mir Hoax-Virenwarnungen und Kettenbriefe – und das einmal die Woche, wenn sie ihre Mailbox leeren.

 Versuche, Silke zum Chatten zu bewegen, versanden in einem „Hallo? Halloooo?“ und enden in Mails, die mir zu verstehen geben, dass ich nicht ganz bei Trost sein könne, wenn mir so was Spaß mache. Wenn ich Margot erzähle, dass mein Rechner 24 Stunden am Tag online ist, fängt sie verstohlen an, nach den Formularen für meine Entmündigung zu suchen. In regelmäßigen Abständen verweist mich Stefan auf den Link www.onlinesucht.de, den einzigen übrigens, den er selbstständig ergoogelt hat.

 Kürzlich versuchte ich, ermutigt vom Suchtstoff Alkohol, den Spieß umzudrehen: Kohlenstoffabhängig seien meine Freunde, tobte ich, alle miteinander! Gesichtsfetischisten! Facialfaschos! Real Life Junkies! Einige Schlucke später nannte ich mich Meisterin des körperlosen Spiels. Da ich gleich darauf mit den Worten: „Seht her! Ich kann jederzeit aufhören!“ zur Tür hinausstürmte, blieb es an diesem Abend beim Gleichstand.

 Jetzt warte ich auf Freitag, dann checkt Stefan seine Mail. Würde mich nicht wundern, wenn er mir einen Link zu den Anonymen Alkoholikern schickte. Sofern er den in diesem Internet finden kann. Aber auf das ist er ja eh nicht angewiesen. IRA STRÜBEL

ira@copysquad.com