Von „unter ferner liefen“ auf Platz 1

In der fünfjährigen Regierungszeit von Zhu Rongji ist das Reich der Mitte zum führenden Telekommunikationsmarkt der Welt geworden. Vor dem Volkskongress verabschiedet sich Chinas erfolgreichster Wirtschaftspolitiker aller Zeiten nun aus dem Amt

aus Peking GEORG BLUME

Bo Xilai, Sohn eines berühmten Revolutionsgenerals, zählt zu den wenigen landesweit bekannten Persönlichkeiten, die der Kommunistischen Partei Chinas auch nach dem Abtritt ihres „Wirtschaftszaren“ Zhu Rongji Autorität verleihen können. Doch gestern übte Bo, derzeit Gouverneur der mandschurischen Krisenprovinz Liaoning, erst einmal Trauerarbeit. „Wenn Zhu uns einmal im Jahr in Liaoning besuchen kam, mussten wir vorher unsere Zahlen lernen“, so Bo, als er im Kreis von Delegierten des 10. Nationalen Volkskongresses auf die fünfjährige Amtszeit Zhus als Premierminister zurückblickte. „Wer nicht tausend Zahlen im Kopf hatte, konnte die Fragen des Premiers nicht beantworten.“ In Zukunft wird kein Computermensch an der Spitze Chinas mehr Rechenschaft von seinen Untergebenen verlangen.

Der jährlich tagende Volkskongress, das langsam an Einfluss gewinnende Scheinparlament der Volksrepublik, wird in Kürze den bisherigen Vizepremier Wen Jianbao zum Nachfolger Zhus bestimmen. Gestern aber stand zum letzten Mal derjenige im Mittelpunkt, der sich immer dagegen gewehrt hatte, als „Chinas Gorbatschow“ bezeichnet zu werden: Zhu wollte sich nie als Totengräber der Partei verstehen und bleibt ihr treuester Diener – allerdings mit einem sehr eigenwilligen Verständnis ihres Auftrags: „Es waren fünf Jahre, in denen sich das Antlitz des Landes von Tag zu Tag veränderte“, resümierte Zhu gestern gewohnt ideologiefrei.

Bei seiner Rede verlor er kein Wort über sozialistisches Heldentum und kommunistische Gerechtigkeit. Stattdessen: Zahlen, Zahlen, Zahlen. „Die Länge der Autobahnen ist von 4.771 Kilometern 1997 auf 25.200 Kilometer 2002 gestiegen und somit von der 39. auf die 2. Stelle in der Welt aufgerückt“, bilanzierte er. Was gemeint ist, weiß jeder, der in den letzten fünf Jahren die chinesischen Provinzen bereiste. Dort war man 1997 noch tagelang unterwegs, um von einer Großstadt zur anderen zu gelangen. In Sichuan, einer 90-Millionen-Einwohner-Provinz so groß wie Frankreich, kam ein ausländischer Geschäftsmann selten über die Hauptstadt Chengdu hinaus, weil aus ihr nur Landstraßen voller Pferdewagen und Wasserbüffel ins Umland führten. Heute gibt es Autobahnen in alle Himmelsrichtungen – etwa nach Mianyang, dem Standort des größten chinesischen TV-Herstellers Changhong, der bereits nach Osteuropa liefert.

Doch Zhu hat nicht nur viel Asphalt und Beton gießen lassen. „Die Zahl der Telefon- und Mobiltelefon-Benutzer hat sich von 1997 bis 2002 von 83,54 Millionen auf 421 Millionen vergrößert und kommt somit auf den ersten Platz der Welt“, rechnete er dem Volkskongress vor. In den 90er-Jahren gab es kaum ein öffentliches Telefon in der chinesischen Provinz. „Niemand hat vor fünf Jahren gedacht, dass der chinesische Mobilfunkmarkt heute führend sein würde“, bestätigt Kenneth Courtis, Vizepräsident der US-Investment-Bank Goldman Sachs in Hongkong.

Genau dieses Erstaunen wollte Zhu mit seinem Bericht noch einmal auslösen. Courtis, eigentlich ein Japan-Experte, ist voll davon: „Vor fünf Jahren debattierten wir, ob die Reformen in China weitergehen“, erinnert er sich. „Diese Debatte ist vorbei. Heute hinterfragt man nur noch das Tempo.“ Zhu formulierte aber vorsichtiger: „Der Grad der Marktwirtschaft hat sich erhöht“, sagte er und mahnte wiederholt die „Trennung der Kompetenzen der Regierung von denen der Unternehmen“ an. Da gibt es offenbar noch viel zu tun. Ebenso im staatlichen Bankensektor, dem er vorwarf, privaten Unternehmen nicht genug Kredite zu gewähren. Oder im Staatsapparat, den er von „korrupten Elementen“ befallen sieht.

Zhu sparte auch nicht mit dunklen Warnungen: vor Einkommensverlusten der Bauern, deren „gedämpfter Enthusiasmus“ das ganze Land gefährde, und vor ökologischen Problemen. „Man darf keinesfalls eine zeitweilige wirtschaftliche Entwicklung auf Kosten der Umwelt anstreben“, wiederholte er seinen in der Flutkatastrophe von 1998 entwickelten Glaubenssatz ein letztes Mal in dieser Öffentlichkeit. Wird man dergleichen in China von so hoher Stelle wieder hören? Nicht nur Zhu denkt am liebsten in Zahlen.