soziales pflichtjahr
: Zwanghafter Mittelstand

Soziales Pflichtjahr? Feine Sache. Viele Grünenwähler, Akademiker, Mittelständler, ach: das halbe postmaterialistische Lager könnte sich dafür erwärmen, nach Abschaffung von Wehr- und Zivildienst die jungen Menschen ein Jahr in Behindertenheime und Robbenaufzuchtstationen zu schicken.

KOMMENTAR von ULRIKE WINKELMANN

Recht haben sie. Die meisten, die ein freiwilliges soziales Jahr oder Ähnliches gemacht haben, bestätigen, dass das eine großartige Erfahrung ist. Nach der umhätschelten Abhängigkeit in der Schule und vor dem Einstieg ins konkurrenzregierte Berufsleben kann eine Runde Dienst am Nächsten das Sinnvollste sein, was jemand über Jahre hinaus macht. Wer einen einzigen Tag mit geistig Behinderten verbracht hat, weiß, wie sich das Gegenteil von Zeit- und Leistungsdruck anfühlt. Das vergisst keiner. Und die Gesellschaft braucht eine Menge Leute, die so etwas nicht vergessen.

Hinter so einer Haltung steht die Logik aller strengen Eltern: „Hat mir auch nicht geschadet.“ Da spricht eine Klientel über sich selbst. Denn es sind zumeist Mittelstandskinder, die zwischen Abi und Studium ein paar Monate einschieben, in denen sie an ihren sozialen Kompetenzen arbeiten. Das ist schön für sie und hoffentlich auch für die Betreuten.

Aber das heißt nicht, dass sich eine derartige Erfahrung auf den ganzen Nachwuchs ausweiten ließe. Geschweige denn in Form einer Zwangsmaßnahme. Um das zu begründen, muss man gar nicht die von den Nazis geschaffene Tradition des Reichsarbeitsdienstes bemühen. Es ist schlichtweg ausgeschlossen, dass die Qualität der Erfahrung und die Qualität der geleisteten Arbeit erhalten bleiben können, wenn der Staat alle jungen Menschen zur aktiven Nächstenliebe verdonnert. Dies wiederum werden alle Zivis bestätigen, die ihre Zeit in Hausmeisterkabuffs verdämmert haben, weil für sie keine erfüllende Aufgabe zu finden war.

Das soziale Pflichtjahr stammt – wie das Billigflug-Verbot oder die Goethe-Pflichtlektüre – aus dem Ideenkanon von Menschen, die ihr Privileg mit ihrer Leistung verwechseln: Weil sie frei genug sind, sich selbst zu zwingen, meinen sie, andere dürften gezwungen werden. Doch der gesellschaftlich engagierte Mittelstand hat kein Recht, seine eigene politische Moral dem Rest der Bevölkerung aufzudrücken. Es ist und bleibt eine Moral, die man sich erst einmal leisten können muss.

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