Iraks Schiiten wollen wählen

Fast 100.000 Schiiten demonstrieren in Bagdad gegen demokratische Einschränkungen bei der Wahl von Parlament und Regierung. US-Zivilverwalter Bremer will UN als Vermittler einspannen

BAGDAD/GENF taz ■ Fast 100.000 Schiiten haben gestern in Bagdad für freie Wahlen im Irak demonstriert. Nur wenige Stunden vor Beginn von Gesprächen zwischen den USA und den Vereinten Nationen über die Zukunft des Landes machten die Anhänger des schiitischen Ajatollah Ali al-Sistani ihre Kritik am geplanten Zeitplan der USA deutlich. „Ja zu Wahlen, Nein zu Auswahlen“ war eine der am häufigsten zu hörenden Parolen. „Wirkliche Demokratie heißt echte Wahlen“, hieß es auf vielen Schildern.

Ein Gesandter Sistanis, Heschem al-Awad, rief der Menge zu: „Die Söhne des irakischen Volkes fordern eine direkte Wahl und eine Verfassung, die Gerechtigkeit und Gleichheit für jeden verwirklicht.“ Die Schiiten stellen etwa 60 Prozent der irakischen Bevölkerung. Erst in der vergangenen Woche waren zehntausende Schiiten in der Hafenstadt Basra für freie Wahlen auf die Straße gegangen. Am Sonntag starben bei einem Anschlag auf irakische Zivilisten vor der US-Zivilverwaltungszentrale in Bagdad mindestens 24 Menschen.

Die US-Leitlinien sehen bisher statt allgemeiner lediglich regionale Wahlen für das nächste Jahr vor. Diese sollen Delegierte für eine Nationalversammlung auswählen. Die geplante Übergangsregierung soll im Juli dieses Jahres nicht gewählt, sondern ernannt werden. Als Grund für dieses Vorgehen wird von der US-Verwaltung die prekäre Sicherheitslage genannt. Auch mehrere Mitglieder des irakischen Regierungsrats haben sich inzwischen von dem im November mit den USA getroffenen Procedere distanziert.

Gestern Abend begannen in New York Gespräche zwischen dem US-Verwalter für Irak, Paul Bremer, und UN-Generalsekretär Kofi Annan. Die USA wünschen eine Vermittlerrolle der UN im Streit um die Machtübergabe an die Iraker. In Begleitung einiger Mitglieder des provisorischen Regierungsrats warb Bremer bei Annan sowie bei einem Treffen mit den Mitgliedern des Sicherheitsrats auch um eine Rückkehr der humanitären UN-MitarbeiterInnen in den Irak, die nach den beiden Anschlägen auf die Bagdader UNO-Zentrale im Herbst letzten Jahres abgezogen worden waren.

Konkrete Zusagen oder Beschlüsse wurden von den New Yorker Gesprächen nicht erwartet. Im Vorfeld hatte Annan von Washington die „genauere Definition“ einer künftigen Rolle im Irak verlangt. Eine Mehrheit der 15 Ratsmitglieder machte zumindest bislang zur Bedingung, dass die Vereinten Nationen wenigstens konkrete Mitsprache- und Entscheidungsbefugnisse in allen relevanten politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Fragen im Irak erhalten.

KLH, AZU

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