Der geschärfte Blick

Fotografie und gesellschaftliches Engagement gehörten für Gisèle Freund zusammen. Prostituierte und Prominente. Eine Auswahl ihrer Arbeiten zeigt derzeit das Willy-Brandt-Haus

VON DANIELA HÖHN

Eine schöne junge Frau frisiert sich. Anmutig steckt sie sich eine Spange in ihr langes blondes Haar. Sie lächelt ihr Spiegelbild an, flirtet unbekümmert mit sich selbst. Es ist Evita Perón, argentinische Präsidentengattin, selbst ernannter „Engel der Armen“, auf einer Schwarzweißfotografie von 1950.

Eine andere junge Frau blickt aus tief verschatteten Augen eher misstrauisch in die Welt. Ihr Gesicht scheint hart und verschlossen. Die Hände hat sie in den Taschen ihres Mantels vergraben – eine Dirne, die an eine Säule gelehnt auf Kundschaft wartet, fotografiert 1929 in Frankfurt am Main.

Beides sind Bilder der Fotografin Gisèle Freund, die auch promovierte Soziologin war, Deutsche qua Geburt, Jüdin und später Französin, sogar Botschafterin französischer Kultur in Lateinamerika.

Gisèle Freund hatte einen scharfen Blick für soziale Brüche. Sie sah hinter sorgsam errichtete politische oder persönliche Fassaden und nahm auch wahr, was sich an den Rändern der Gesellschaft abspielte, dort, wo viele lieber gar nicht erst hinschauen.

Vielleicht passen ihre Bilder deshalb besonders gut an einen Ort der Politik. Derzeit jedenfalls ist eine Auswahl ihrer Werke im Atrium des Willy-Brandt-Hauses zu sehen. Der Kontext legt es nahe, sozialdemokratische Politik mitzudenken, wenn man sich die Fotografien Gisèle Freunds anschaut. Das kann man durchaus als Herausforderung auffassen. Die Gegenwart kritisch zu betrachten und dabei auch Auseinandersetzungen nicht zu scheuen, wäre jedoch in Freunds Sinne gewesen. Die politischen Wechselfälle des 20. Jahrhunderts haben sich wie ein roter Faden durch ihr Leben gezogen.

Gisela Freund wird 1908 als Kind einer wohlhabenden Familie in Schöneberg, damals noch bei Berlin, geboren. Das Fotografieren ist für sie zunächst nur ein Hobby. Sie studiert Kunstgeschichte und Soziologie, engagiert sich nebenher im sozialistischen Studentenbund und erkennt früh, welche Gefahr der aufkommende Nationalsozialismus bedeutet. Im Mai 1933 emigriert sie nach Paris. Dort promoviert sie, muss sich aber auch ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie beginnt, als Fotoreporterin zu arbeiten. 1936 nimmt sie die französische Staatsbürgerschaft an. Aus Gisela wird Gisèle. Als vier Jahre später die deutsche Wehrmacht in Paris einmarschiert, flieht sie über Südfrankreich nach Argentinien. Chile und Mexiko sind weitere Stationen in ihrem Leben. Sie arbeitet für die Zeitschriften Time und Life und für die Fotoagentur Magnum. In den Fünfzigerjahren kehrt sie nach Paris zurück, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 lebt.

Evita und Frieda Kahlo

Die Welt erfahrbar zu machen für all jene, deren Lebensweg kein „internationaler“ ist, betrachtete Gisèle Freund als Aufgabe der Fotografie. Aber kann man soziale Verhältnisse oder auch das, was gemeinhin als „Geistesleben“ bezeichnet wird, fotografisch festhalten? Für Freund waren es die Menschen, die im Mittelpunkt standen. Viele ihrer Bilder sind deshalb Porträts. Sie hat politische Persönlichkeiten wie Evita Perón fotografiert, namenlose Prostituierte und Kinder von Arbeitslosen, aber auch viele Schriftsteller und Künstler: Simone de Beauvoir zum Beispiel, in knallroten Kissen, ein Buch vor sich, den Blick fest, fast provozierend auf den Betrachter gerichtet; Virginia Woolf, nachdenklich, fragil, mit großen, melancholischen Augen; Die mexikanische Malerin Frida Kahlo, aufrecht im Rollstuhl sitzend, eine herbe Schönheit.

Gisèle Freund nahm sich Zeit, die Menschen, die sie fotografiert hat, kennenzulernen, denn sie wollte ein Bild von ihnen vermitteln, das ihr Wesen und ihre Lebensumstände für andere nachvollziehbar machen konnte. Von zur Schau getragenen Images und Stereotypendenken ließ sich Freund nicht blenden. Dafür war ihr soziales Bewusstsein, nicht zuletzt durch ihre eigene Lebenserfahrung, zu sehr geschärft.

Ein derart engagierter Blick auf die Welt mutet im schnelllebigen und auf Außenwirkung bedachten 21. Jahrhundert fast schon seltsam an. Insofern passt es, dass die Ausstellung im Willy-Brandt-Haus den Auftakt zum Dritten Europäischen Monat der Fotografie bildet, der in Berlin unter dem Motto „Noch nie gesehen“ steht. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder genauer hinzuschauen.

Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, Di. bis So. 12–18 Uhr, bis 18. 1. 2009, Eintritt frei, Ausweis erforderlich, Katalog 29,80 €