Das Oma-Risiko

Eisschnellläuferin Claudia Pechstein dreht immer noch ihre Runden auf der Suche nach dem verlorenen Anschluss an die internationale Spitze. Zur deutschen Elite gehört sie allemal noch

AUS BERLIN JOHANNES KOPP

Ein Gerücht macht die Runde. Thomas Schubert, der Trainer der derzeit erfolgreichsten deutschen Eisschnellläuferin Jenny Wolf, hieß es, habe die Deutschen Meisterschaften als „Pipifax“ bezeichnet. Er selbst bestritt dies auf Nachfrage. Die nationalen Titelkämpfe am Wochenende in Berlin glichen eher einem öffentlichen Training als einem ernsthaften Wettbewerb. Kaum Emotionen, weder von den Athleten noch von den wenigen Zuschauern, und Ergebnisverkündigungen so monoton wie Bahnhofsdurchsagen.

Aber „Pipifax“? Das wies Claudia Pechstein energisch zurück. Natürlich wird es für die beste deutsche Winterolympioniken auch erst nächstes Wochenende ernst werden, wenn ebenfalls in Berlin die ersten Weltcup-Rennen der Saison anstehen. Doch nach dem missratenen vergangenen Winter scheint Pechstein jedes noch so kleine Erfolgserlebnis ein Labsal zu sein. Am Freitag hatte sie über 3.000 Meter (4:08,32) ihren zwölften nationalen Titel errungen. Dass sie als Langstreckenläuferin auch auf der kurzen Distanz von 1.000 Metern (1:18,17) am Sonntag vorne landen konnte, erfreute sie sichtlich. Sie ballte die Faust, nachdem sie die Ziellinie als Zweite überquerte. „Ich bin mit der Zeit und dem Platz sehr zufrieden“, sagte sie selig lächelnd. „Das Training hat sich ausgezahlt.“ Nur Daniela Anschütz-Thoms war schneller als sie. Auch keine Kurzstreckenspezialistin. Hinter den großen alten Damen des deutschen Eisschnelllaufs klafft nach wie vor eine große Lücke.

„Ich möchte mal wieder aufs Podium“, erklärte Pechstein mit Hinblick auf die kommenden Wochen. Letzte Saison schrammte sie regelmäßig an den Podestplätzen vorbei. Die 36-Jährige hatte angekündigt, sie werde aufhören, wenn sie bei der WM in Nagano im März 2008 nicht aufs Siegertreppchen komme. Für viele Journalisten wurde dieses Szenario immer realistischer. Die Berichterstattung nahm Nachrufcharakter an. Sichtlich genervt von den Schlagzeilen („Das war teilweise respektlos“) revidierte Pechstein noch vor der WM ihren Entschluss und erklärte, sie werde in jedem Falle bis zu den Winterspielen in Vancouver 2010 weitermachen.

Karrieren von erfolgreichen Sportlern enden sehr verschieden. Einige treten von ganz oben ab (Olympiasieg oder WM-Titel), andere erklären sich unabhängig von ihrer selbst so hoch gesetzten Messlatte des Erfolgs. Ohne Druck noch einmal das privilegierte Athletenleben genießen, heißt deren Maxime. Claudia Pechstein scheint irgendwie beides zugleich zu wollen. Einerseits betont sie häufig: „Ich muss niemandem mehr etwas beweisen.“ Und sie erzählt, wie „stolz“ sie auf den vierten WM-Platz über ihre Paradestrecke, die 5.000 Meter, letzten März in Nagano sei. Es plagte sie damals nämlich ein Infekt. Andererseits ist auf ihrer Homepage von einer „fast total verkorksten Saison“ die Rede.

Am Sonntag wiederum wollte sie nicht einmal die Bezeichnung „Ausrutschersaison“ gelten lassen. „Vierte Plätze sind doch kein Misserfolg“, sagte sie pikiert. Es verwundert wenig, warum sich Pechstein so oft missverstanden fühlt.

Für die Zukunft setzt sie sich die unverändert hohen Ziele. Bei der nächsten WM in Vancouver 2009 hat sie wieder Platz eins bis drei im Visier. Wobei auf ihren Spezialstrecken (3.000 und 5.000 Meter) an der überragenden 21-jährigen Tschechin Martina Sáblíková derzeit kein Vorbeikommen ist.

Auch wenn Pechstein beteuert, dass sie alles wie immer mache und auch an ihrem Training nichts verändert habe, wirkt dieser Saisonbeginn wie ein Neuanfang. Im Sommer hat sie ihre Nasenscheidenwand richten lassen, um ihre Infektanfälligkeit zu minimieren. Bundestrainer Markus Eicher erklärt: „Claudia ist besser drauf als zum selben Zeitpunkt vergangene Saison.“ Pechstein selbst sagt: „Ich mag keine Vergleiche.“ Sie will nicht zurückschauen. „Ich bin ein Kind des Eises“, hat Pechstein einmal gesagt. Womöglich wird so einmal der Titel ihrer Autobiografie lauten. Bis es so weit ist, wird sie es bei schlechteren Ergebnissen wohl oder übel ertragen müssen, dass der ein oder andere von der „Eislauf-Oma“ schreiben wird.