„Ein sofortiger Abzug könnte zu Chaos führen“

Der Afghanistan-Experte Herbert Sahlmann fordert eine klare Abzugsstrategie aus Afghanistan und besseren Schutz für Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. An Verhandlungen mit den Taliban führe aber kein Weg vorbei

HERBERT SAHLMANN, 70, hat schon für die Regierung Willy Brandt ein Afghanistan-Konzept verfasst. Er engagiert sich in der Friedensbewegung.

taz: Herr Sahlmann, macht die Bundeswehr in Nordafghanistan schlechte Arbeit?

Herbert Sahlmann: Nein, das nicht. Die Bundeswehr bemüht sich sehr, Sicherheit für die afghanischen Staatsorgane und die Menschen herzustellen. Aber wegen der Gesamtstrategie der Nato hat sie bisher keinen Erfolg. Solange die Amerikaner mit ihrer Operation Enduring Freedom Krieg gegen den Terrorismus führen, wird sich die Sicherheitslage für alle stetig verschlechtern.

Dann macht die Bundeswehr selbst alles richtig?

Ich wünsche mir, dass die Bundeswehr mehr aus ihren Camps herauskäme, mehr mit den Menschen machte und weniger mit dem Eigenschutz beschäftigt wäre. Die Fixierung auf Selbstschutz führt auch zu dem großen Personalbedarf. Im Lager Kundus wird eine Klinik für die Soldaten auf Kreiskrankenhausniveau betrieben, dabei könnte man Verletzte ärztlich notversorgen und nach Masar-i-Scharif fliegen.

Ist militärischer Schutz für den Aufbau des Landes nötig?

Natürlich braucht man Schutz – für die Bürger Afghanistans. Das sagen auch die Nichtregierungsorganisationen. Schutz für deren Mitarbeiter kann die Bundeswehr nicht gewährleisten. Darum ist die Welthungerhilfe zum Beispiel aus Kundus in die Nachbarprovinz ausgewichen. Die staatlichen Institutionen aber brauchen den Schutz der Ausländer, weil versäumt wurde, die lokalen Kriegs- und Drogenbarone zu entwaffnen. Die Entwaffnung müsste längst Aufgabe auch der Bundeswehr sein.

Eine gefährliche Aufgabe.

Wenn Militär überhaupt notwendig ist, werden Leib und Leben riskiert. Das ist nun einmal so. Man kann höhere Verluste nicht ausschließen, um den Job in Afghanistan richtig zu machen.

Pazifismus klingt anders …

Man will schützen. Damit das funktioniert und von den Bürgern akzeptiert wird, muss man die Operation Enduring Freedom beenden. Das deutsche Engagement braucht eine viel stärkere zivile Komponente. Die jüngste Aufstockung der zivilen Mittel wird doch allein schon von der Panzerung der Autos aufgefressen. Mittelfristig muss die Nato die Führung des Isaf-Mandats an die UNO abgeben. Dazu bedarf es einer Exitstrategie, in der benannt wird, bis wann die afghanische Armee und die afghanische Polizei stark genug sein müssen.

Bislang drängelt sich die UNO in Afghanistan nicht vor. Und die Nato hat doch Zielgrößen.

Die UNO ist so stark, wie ihre Mitgliedstaaten wollen. Und die Nato definiert zwar ständig Zielgrößen für afghanische Armee und Polizei, doch ist unklar, bis wann die erreicht sein sollen und wer das bezahlt.

Die Friedensbewegung fordert einen sofortigen Abzug. Viele Afghanen fürchten für diesen Fall um ihr Leben.

Ein sofortiger Abzug könnte zu chaotischen Verhältnissen führen. Der Sofortabzug ist eine Maximalforderung, die erhoben wird, um einen Strategiewechsel herbeizuführen. Man riskiert damit allerdings, von Politikern weniger ernst genommen zu werden. Wenn stärker mit den Taliban verhandelt würde und weniger Zivilisten von der Nato getötet würden, wäre auch das Leben der afghanischen Demokraten weniger bedroht.

Die Taliban werden durch Verhandlungen aufgewertet und am Ende einen Teil der Macht beanspruchen, heißt es oft von Kritikern.

Mit dem Mandat Operation Enduring Freedom (OEF) beteiligt sich die Bundesregierung am Anti-Terror-Kampf der USA. Am Dienstag geht der Verlängerungsantrag für das OEF-Mandat, das jährlich bewilligt werden muss, im Bundestag in die erste Lesung. Dem Antrag nach will die Regierung künftig auf eine Beteiligung auf afghanischem Boden im Rahmen des OEF-Mandats verzichten – und die bisher mögliche Entsendung von bis zu 100 Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) nach Afghanistan streichen. Diese wurden seit 2005 nicht mehr angefordert. Stattdessen sollen Soldaten nur noch im Rahmen des Isaf-Mandats, einer Sicherheitstruppe unter Nato-Führung, nach Afghanistan entsandt werden. Derzeit kontrollieren im OEF-Mandat rund 90 Bundeswehrsoldaten am Horn von Afrika die Seeverbindungslinien, um den Waffen- und Drogenschmuggel von Terroristen zu verhindern. Die Obergrenze für diese Soldaten soll von 1.400 auf 800 sinken. TAZ

Es führt kein Weg daran vorbei, und es geschieht ja auch bereits. Die Taliban werden nicht flächendeckend die Macht übernehmen, wenn die Nato abzieht – wahrscheinlich in einzelnen Provinzen. Doch die Mehrheit der Afghanen mag sie nicht, und sie werden andere Führer wählen.

Es kann also Demokratie geben, wenn die Taliban Macht bekommen?

Einige Taliban werden sich Wahlen stellen.

Laut Umfragen ist die Mehrheit der deutsche Bundesbürger gegen den Einsatz. Warum kann die Friedensbewegung nur wenige Leute mobilisieren?

Die Deutschen sind jetzt mit anderen Dingen beschäftigt – der Finanzkrise und so weiter. Regionalkonflikte im Fernen Osten drängen sich ihnen nicht unmittelbar auf. Dennoch ist es begrüßenswert, dass die Mehrheit nicht an militärische Mittel glaubt. Wir haben seit Willy Brandt ganz andere Möglichkeiten, Länder zu stabilisieren – wir haben zivile Entwicklungsstrategien. Wir müssen sie nur auch endlich mit voller Kraft anwenden. INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN