: Das unbekannte Land
Anke Richter lebte sieben Monate lang mit ihrem Mann und ihrem Sohn auf der Pazifikinsel Tokelau. Nun hat sie ein Buch über das Leben in der Isolation geschrieben
von LENA GORELIK
Kein Mensch kennt Tokelau. Kein Mensch hat je etwas von dem kleinen Land gehört, das irgendwo im Südpazifik liegt, aus drei kleinen Atollen besteht, von 1500 Menschen bewohnt wird. Kein Tourist verirrt sich in das Paradies aus Kokospalmen, Meeresrauschen, Sonne. Kein Tourist lebt mit den Einwohnern in einer fremden, fundamentalistisch christlichen Kultur in der totalen Isolation. Anke Richter hat mit ihrer Familie sieben Monate auf Atafu, einem der Atolle verbracht, jetzt hat sie ein Buch über ihr Leben dort geschrieben.
„Angst hatte ich nicht“, erzählt die Journalistin. „Vielleicht die Befürchtung, dass ich einen Inselkoller bekomme.“ Einmal im Monat kommt ein Schiff aus Samoa nach Tokelau und bringt Essen vorbei, sonst kann man die Inseln nicht verlassen. Es gibt keinen Flughafen, es gibt keine Autos, keine Gefängnisse, keine Medien, keine Touristen in der letzten Kolonie Neuseelands. „Mein Mann war Arzt in der Kieler Uniklinik und war ständig im Stress. Da haben wir entschieden, wir müssen für eine Zeit lang weg“, erzählt Richter. Weil viele Länder wegen tropischer Krankheiten nicht in Frage kamen, bewarb sich Frank Küppers in „rotweinseliger Laune“ um eine Arztstelle in Poly-, Micro- und Melanesien. Aus Tokelau kam ein Angebot.
In ihrem sehr persönlichen Buch „Tokelau – 200 Tage. Bericht aus einem sinkenden Paradies“ beschreibt Anke Richter ihr Leben auf Atafu: Die freundlichen und herzlich offenen Tokelauer, ihre strengen christlichen Verhaltensregeln, die fremde Kultur. „Je länger wir dort waren, desto tokelauischer wurden wir“, erzählt die Autorin. „Wir wurden auf der einen Seite herzlich aufgenommen und ins Dorfleben integriert.“ Auf der anderen Seite habe es immer eine unsichtbare Grenze gegeben. „Sie haben uns eine heile Welt vorgespielt, die nicht existierte.“
Manchmal, wenn Anke Richter schnell, begeistert und aufgeregt von Tokelau erzählt, erinnern ihre Geschichten an eine Gesellschaft, die es bei uns auch mal gab und mittlerweile abgeschafft wurde.
In der Schule gibt es die Prügelstrafe, schwimmen gehen darf man nur in Shorts und T-Shirt, am Sonntag ist eigentlich nur Bibellesen erlaubt. „You are radical“ hat Anke Richter immer zu hören bekommen, nur weil sie ihrem vierjährigen Sohn keine Ohrfeigen geben wollte. Der hat sich am schnellsten eingelebt: „Er hat tokelauisch gesprochen, hat im Kindergarten die Volkstänze getanzt, ist mit seinen Freunden draußen herumgetobt.“ Auf Tokelau gibt es für Kinder kaum Gefahren, die ganze Dorfgemeinschaft passt auf die Kleinen auf.
Während ihr Mann, eigentlich Urologe, Inselarzt für alle drei Atolle war, spielte Anke Richter die Arztfrau. Der Arzt kommt auf Tokelau gleich nach dem Pastor, ist eine hoch angesehene Person. „Ich habe teilweise spießige Anwandlungen bekommen, habe mich gefragt, was die Nachbarn wohl denken“, erzählt die 39-Jährige, die jahrelang als Journalistin gearbeitet hat, in den USA gelebt hat, sechs Monate lang alleine Australien bereiste.
Untätig geblieben ist Anke Richter trotz ihrer repräsentativen Rolle nicht. Zusammen mit ihrem Mann hat sie einen Workshop über Verhütungsmittel gemacht, die in Tokelau zwar erlaubt sind, von der Tradition aber nicht gern gesehen sind. „In dem Land hat nur der Ältestenrat, etwas zu sagen. Es gilt bereits als unhöflich, wenn junge Menschen Ältere ansprechen.“ Mit einem weiteren Workshop, den sie zum Thema Prügelstrafe und Gewalt macht, geht die Journalistin zu weit. Ein 14-jähriges Mädchen bringt sich um, nachdem ihr Vater sie in der Öffentlichkeit verprügelt, weil sie einen Freund hat. In Tokelau ist auch Zusammenleben unter einem Dach vor der Ehe nicht erlaubt. „Ich war erschüttert und trauerte um das Mädchen“, erzählt Anke Richter. Ihr Workshop wurde auf Atafu jedoch argwöhnisch betrachtet. „Ich hatte mich zu sehr in ihr Leben eingemischt, sie wollten diese Dinge nicht hören.“
Anke Richter beschreibt das Leben auf dem Atoll so, dass man sich als Leser wünscht, selbst eine Zeit lang dort zu leben, mit den Einheimischen zu tanzen, zu kochen, zu feiern. Tokelau, das Land, das kein Mensch kennt, wächst einem mit jeder Seite mehr ans Herz und wirkt am Schluss vertraut.