Totgeburt, blutleer

Akzentsetzung vermieden: Patrick Schlösser inszeniert Ibsens „Gespenster“ am Schauspielhaus

von PETRA SCHELLEN

Das mit dem Alkoholiker gezeugte Kind ist eine Totgeburt. Ein Faktum von großer Symbolkraft, leicht Décadence-angehaucht, das zum Publikum der Ibsen-Zeit deutlich sprach. Das alle Bemühungen von Mutter Alving, den Ruf der Familie zu wahren, zunichte macht. Und das auch einen Appell birgt: Wahrhaftigkeit zu suchen, weil jede Lebenslüge scheitern wird. Deutlich moralisierend geriert sich Henrik Ibsens Familiendrama Gespenster, das am Donnerstag im Schauspielhaus Premiere hatte, das kompromisslos für Ehrlichkeit plädiert – und doch latent bürgerlichen Moralvorstellungen verhaftet bleibt: Hätte die Frau, die – ermahnt durch den Pastor – den Trinker jahrzehntelang ertrug, einen soliden Mann geheiratet, die nächste Generation wäre gerettet gewesen.

In einem merkwürdigen Zwischenreich zwischen Frauenbefreiung und -wiederfesselung bewegt sich Ibsen mit seinem Skandalstück wider die Bigotterie. Ein Sich-Verheddern im Glauben an die Macht gesellschaftlicher Normen praktiziert Helene Alving, die in der zweiten Lebenshälfte rasante Selbsterkenntnisse durchlebt. Ein Ansatz, mit dem heute wenig anzufangen ist, zumal Ibsen seinen Wahrheitsfanatismus hier ins Nichts zurückstößt, weil die Erkenntnis der Mutter, die beim Sohn die Illusion des illustren Vaters schuf, zu spät kommt.

Wie soll man also umgehen mit einem Plot, dessen erste Hälfte – der Dialog der Alving (Ilse Ritter) mit Pastor Manders (Michael Abendroth) über Legitimität und Nutzen von Illusionen – deutlich historisch ist und dessen zweiter Teil die Kluft zwischen „Täter“- und „Opfer“-Generation zeigt? Denn was sollen die frisch gekürten Halbgeschwister Osvald (Marek Harloff) und Regine (Maja Schöne), er der Vater-, sie der Mutter-Illusion beraubt, jetzt mit sich anfangen?

Regisseur Patrick Schlösser nutzt die Chance nicht, die in solchen Zuspitzungen liegt: Er diskutiert nicht die Kluft zwischen Illusion und Wahrheit und vertieft auch nicht die Frage, was die Kinder anfangen sollen mit dem ererbten Leben. Er lenkt den Spot nicht auf Machtkonstellationen und spielt nicht einmal ansatzweise die Frage nach dem Schicksal an – obwohl das Stück deutlich auf antike Tragödien verweist.

Stattdessen begnügt sich Schlösser nicht nur mit einem naturalistischen Bühnenbild (Thomas Schuster), das sämtliche Skandinavien-Klischees bedient. Er lässt das Stück auch schlicht und kommentarlos vom Blatt spielen. Viel zu ausführlich debattieren Helene Alving und Manders die Lügen der Vergangenheit – ein Diskurs, der im lauen Für und Wider steckenbleibt. Wie nebenbei formuliert später Osvald die Reue über sein vermeintlich verpfuschtes Leben. Und wenig überzeugend wirkt das Bekenntnis der eleganten Frau Alving, sie habe das Leben ihres Verstorbenen verdüstert.

Einigermaßen lau reagieren auch Osvald und Regine auf ihre plötzliche Biographieverschiebung – eine Situation, die alle Chancen geboten hätte, über Entwurzelung, die Axiome von Selbstbild und dessen Neukonstituierung zu diskutieren. Denn wie in den Alex Katz‘ Cutouts sind die jungen Leute hier plötzlich aus ihrer Welt gefallen. Halb-irr schrammen sie aneinander vorbei; „so hab ich mir das nicht vorgestellt“, schreit Regine, die nach der geplatzten Liaison mit Osvald keinen Platz mehr für sich weiß.

Doch all dies bleibt angetippt, eingebettet in jenen merkwürdig rasanten, die Inszenierung dominierenden Selbsterkenntnis-Prozess der Mutter, die ballerinagleich übers Parkett schwebt und distanziert-elegant jede Situation managt. Ein interessantes Thema, sicher. Für einen Neuaufguss der Gespenster aber einfach nicht genug.

weitere Vorstellungen: 8.+9. 3., 20 Uhr, Schauspielhaus