Als schmale Frau

Nele Herrmann hat Brustkrebs. Vor kurzem fanden die Ärzte zwei neue Metastasen. Ihr Leben sei beschaulich – „wie auf einem Pulverfass“

Einmal im Monat läuft eine Flüssigkeit in Nele Herrmanns Körper – und sie hilftDass sie jetzt dauernd bei Ärzten ist – „das geht mir ganz schön auf den Keks“

ie Kanüle unter ihrer Haut heißt Max. Im Gedenken an Max Reger, dessen Musik sie so gerne mag. Durch Max fließt alle vier Wochen eine Flüssigkeit, die beim Aufbau von Knochensubstanz helfen soll. Nele Herrmann hat Knochenmetastasen. Neulich war sie zur Kontrolle im Krankenhaus, neue Computertomografien wurden gemacht, „und die sind nicht gut.“ Sie zeigen neue Metastasen im Becken. Zwei sind es, ganz klein. „Winzig“, sagt Nele Herrmann, „ganz winzig“. Trotzdem sind sie da. „Das ist der Stand.“ Die 53-Jährige schaut aus dem Fenster auf die Rosen an der Wand zum Nachbargarten. Die hat sie gestern noch beschnitten, bevor sie wieder ausschlagen.

Ende 1998 war es, als Nele Herrmann erfuhr, dass sie Brustkrebs hat. Acht Tage Krankenhaus, die Knoten in der rechten Brust rausnehmen, hatten die Ärzte ihr gesagt. Es wurden fünf Wochen. „Als ich rauskam, hatte ich keine Brüste und rechts keine Lymphknoten mehr.“ Denn auch in der anderen Brust und in den Lymphknoten hatten die Mediziner Krebszellen gefunden.

Für Nele Herrmann war schnell klar, dass sie keinen Ersatz wollte für die kranke Brust. Erst die rechte Seite mit Implantaten wieder aufbauen, dann Chemotherapie und Bestrahlung, ein Jahr später dasselbe mit der anderen Seite – das war der Vorschlag der Ärzte. „Meine Idee war: Beide Brüste gleich ab, nur einmal Chemo und keine Bestrahlung.“ Die Bestrahlung wäre vorbeugend gewesen: Wenn sich neues Krebsgewebe bilden würde, könnte es sein, dass man das wegen der Implantate erst zu spät bemerkt. Also präventiv bestrahlen. Nicht bei Nele Herrmann. Die Implantate wollte sie ohnehin nicht. „Alles nur wegen der Optik“, sagt sie und schüttelt den Kopf, „das ist ja noch nicht mal ein Gefühlsorgan“ – das, was da entstanden wäre anstelle der kranken Brust. „Da bin ich Egoist: Wenn es mir nichts bringt, was soll es dann?“

Seither fühlt sie sich „als schmale Frau“. Sie sieht an sich herunter, fährt sich an den Seiten über das schwarze Shirt. Seither könne sie an sich heruntersehen, bis zu den Zehenspitzen. „Ich komme mir länger vor“, sagt sie, „ich fühle mich gar nicht so schlecht mit diesem neuen Körpergefühl.“ Alle hätten ihr gratuliert, erinnert sich Nele Herrmann, zu ihrer Entscheidung, auf Implantate zu verzichten.

Zwei Jahre lang glaubt die „schmale Frau“, dass alles in Ordnung ist, dass der Krebs weg sei, ein für allemal. „Meine Ärzte haben mich freundlicherweise in dem Glauben gelassen“, erzählt sie, „ich hab auch nicht gefragt.“

Zwei Jahre später sind in einem Routine-CT die Knochenmetastasen zu sehen.

Nele Herrmann, Biologin von Hause aus, hat ihr Leben nicht wesentlich geändert. „Vielleicht bin ich zu träge“, sinniert sie, „aber eigentlich fand ich nicht so viel an meinem bisherigen Leben, was ich ändern wollte.“ Sie hat das eine oder andere eingeschränkt. „Aufs Rauchen will ich nicht verzichten und auf den Wein auch nicht.“ Wenn sie sich eine Zigarette dreht, faltet sie aus dem silbernen Schächtelchen mit Tabak und Filtern ein schmales Stück Papier und malt einen Strich neben vier weitere: die Fluppen des Tages. „Das ist neu: Ich zähle jetzt mit.“ Seitdem raucht sie weniger.

Mit den Metastasen kamen für vier Wochen die Bestrahlungen und die Infusionen. Einmal im Monat läuft eine Flüssigkeit in Nele Herrmanns Körper –und sie hilft: Die vom Krebs angegriffenen Knochen werden stabiler. Weil ihre Venen so schlecht zu treffen sind, derart schlecht, dass jede Infusion für Nele Herrmann zum Horror wurde, hat sie sich den Port legen lassen, Max. Ihre Freundinnen, mit denen zusammen sie Musik macht, haben ihr zuvor die Umrisse der Schulterstütze ihrer Bratsche mit Filzstift auf dieHaut gezeichnet: Da, so die Weisung an die Ärzte, dürfe das Ding auf keinen Fall hin. Die Ärzte operierten den Zugang unter das Body-Painting, knapp über der breiten Narbe, die sich zwischen Nele Herrmanns Achseln dehnt. Wo sie früher nach den Venen suchten und Nele Herrmann mit Hämatomen zurückkam, stechen sie jetzt jedes Mal durch die Haut über dem Port, entnehmen Blut und stöpseln die Infusionen dran. Die Schwäche und das Fieber nach den ersten Infusionen haben sich inzwischen gelegt.

„Die Bedrohung ist näher gekommen“, Nele Herrmann zieht an ihrer Zigarette, „ich hab sie vorher nicht gefühlt.“ Sie schweigt, schaut in die Sonne, die durch die Fenster Muster auf den Parkettboden zeichnet. „Na klar hab ich viel übers Kranksein, über Hilfsbedürftigsein und auch übers Sterben nachgedacht. So richtig kann man sich das nie vorstellen.“ Vor einigen Wochen hat sie sich Hospize angesehen. In Hamburg, wo ihre Schwester lebt. Von zuhause wegzugehen, „aus meiner netten Wohnung“, sei bereits ein erstes Loslassen. Noch steht das nicht an. „Ich könnte mir vorstellen, dass es mir in einer fremden, aber freundlichen Umgebung leichter fällt, dann auch weiter loszulassen.“ Sie möchte nicht, dass Menschen, die ihr nahe stehen, sie pflegen. „Das wär’ mir ein Unterschreiten einer Distanz, die ich mein ganzes Leben für mich gehabt hab’ – bei aller Freundschaft, liebevollen Zuwendung und auch Intimität.“

Still ist Nele Herrmann, nachdenklich. Bedrückt vielleicht. „Wundert dich das?“, fragt sie. Seit ihrer Erkrankung, sagt sie, kommt sie besser mit sich zurecht. „Vorher gab es so viele Dinge, von denen ich den Eindruck hatte, dass ich ihnen nicht genüge. Dass ich nicht hinterherkomme.“ Das sei nun nicht mehr so. „Es ist zwar schlimm, dass ich dafür so schwer krank werden musste, aber vielleicht ist das bei manchen Menschen so.“

Klar ist ihre Krankheit immer präsent, sagt Nele Herrmann, aber „mein Leben besteht keineswegs nur daraus.“ Dass sie jetzt dauernd bei Ärzten, bei der Krankengymnastik, bei den Infusionen ist – „das geht mir ganz schön auf den Keks.“

Der Kontakt zu Freunden sei näher geworden, resümiert sie, „vielleicht weil die ebenso wie ich darauf gestoßen wurden, dass die Sache ziemlich endlich sein kann, und das ziemlich bald.“ Die Sonne, die von draußen ins Zimmer scheint, wärmt schon ein bisschen. „Ansonsten ist das Leben ruhig und beschaulich und an einem Tag wie heute auch sehr angenehm.“ Nele Herrmann blinzelt in die Sonne. „Wie auf einem Pulverfass.“

Susanne Gieffers