auf augenhöhe
: Über die Kunst des Kampfes beim Dialog

Schach in Kreuzberg

In einer Kreuzberger Szenekneipe sitzen zwei Männer, die durchs Fenster betrachtet wie Ameisenforscher wirken. Doch die Figuren, auf die ihr starrer Blick fällt, sind Springer, Damen, Bauern und Türme. Wie von fremder Hand geführt bewegen sich meine Schritte in den Kneipendunst. Die Frage, ob ich zusehen dürfe (gehört zum Schach-Knigge), wird in herzlicher Berliner Manier beantwortet: „De kanns kieken, aber als Kiebitz musste die Fresse halten.“

Mein linker Nachbar ist trotz seiner recht schlechten Stellung guter Dinge und befeuert pausenlos die Partie mit Sprüchen wie „Na, wie schmeckt dir der Zug?“. Er heißt Alex, trinkt Bier und raucht Schwarzer Krauser – während sein Gegenüber eine Cola nach der anderen bestellt und ein mir unbekanntes Kraut zu dünnen Stängeln dreht. Beide haben sich wohl seit Jahren nicht gesehen, sprechen jedenfalls über die alten Zeiten und ehemalige Kumpels. Ihr Alter? Schwer zu schätzen. Irgendwo zwischen Mitte 40 und Anfang 50.

Inmitten von Studenten, Kreuzberger Ureinwohnern und Berlin-Touristen auf der Suche nach dem Multikulti-Flair wirken sie wie randständige Figuren. „Det du noch lebst, Willy, hätt ick nich jedacht!“, meint Alex. Derartige Sprüche mischt er mit Weisheiten aus den Schach-Lehrfibeln. „Altmeister Tarrasch sagte, der Bauer ist die Seele des Spiels“ oder „Wie schon im Lehrbuch von Emanuel Lasker steht: Türme auf der siebten Reihe garantieren den Sieg“. Mit ähnlichem Pathos zitiert er Hölderlin – während der eher schweigsame Willy mit stetigem Grinsen seinen Gegner souverän besiegt.

Dann kommt es, wie es kommen muss: Mein gieriger Blick hat seine Wirkung getan und ich übernehme Alex’ Position. Mit Weiß am Zug wage ich einen Parforceritt, mit frühem Figurenopfer. Alex erwartet von mir nur eines: Rache an Willy. Heiß auf die Vendetta freut er sich ob meiner Dreistigkeit und feuert den Angriff an: „Gib’s ihm“. „Er hat’s verdient …“ – obwohl er ja jetzt als Kiebitz den Mund halten müsste. Neben uns sitzt während der ganzen Zeit ein Student, der eifrig immer gleich scheinende chinesische Schriftzeichen in ein Vokabelheft malt. Was Alex’ Neugier genauso weckt, wie es seine Parlierfreude beflügelt. Er quatscht den Studenten an und fabuliert über den Unterschied zwischen Japan und China.

Mein erster Eindruck: Jetzt wird’s peinlich, er nervt. Aber denkste! Die beiden unterhalten sich über Grammatik, Syntax und Aussprache, und Alex kann von seinen frühen „japanischen Studien“ erzählen. Sie tauschen Gedichte, während ich um meine Partie zittern muss. Das Bier vor mir ist bereits das dritte. Der wortkarge Willy hat im Nu seine Stellung stabilisiert und ich einen Läufer weniger. Willys knapper Kommentar – zu Alex gewandt: „Er verteidigt sich gut!“ Was mich innerlich zum Kochen bringt, schließlich bin ich es doch, der angreift.

Trotz äußerster Konzentrationsversuche höre ich am Nebentisch, wie Alex dem Studenten noch etwas Nachhilfe über „dada“ gibt. „… Nein, das war nach dem Ersten Weltkrieg.“ Nach einer weiteren Stunde beendet der Student seine Fingerübungen und verabschiedet sich: „Danke für das nette Gespräch.“ Ich habe nach einer turbulenten Partie mit Rückopfern von Willy und zwei Stunden heftigstem Adrenalinausstoß immerhin ein Remis geschafft.

Mittlerweile hat ein weißhaariger Alter gefragt, ob er mit Willy spielen könne. Hart, aber ehrlich kommt die Antwort: „Nee, mit dir spiel ick jetz nich, du bis betrunken und wennste denne schlechte stehst, kieksde nach de Frauen und ick kann warten.“ WERNER BRILL