Frauen entdecken die Tigerin in sich

Berlin bietet für Frauen von Aalräuchern bis Zylinder alles. Eine Frage aber bleibt unbeantwortet: Sind sie eher in der Lage, das Instinktive nach außen zu kehren, als Männer? Ein Selbstversuch im Frauenzentrum Schokofabrik

Eine wilde, kreative Urkraft schlummert in jedem weiblichen Körper, sie muss nur aufgespürt werden. So steht es im Programm. Von dieser Vorstellung geht Henriette Heinrichs aus, wenn sie die Teilnehmerinnen ihres Butoh-Tanzworkshops an der Schokofabrik antreibt mit: „Hau mal so richtig auf die Kacke!“. Wenn sie ihnen sagt: „Obwohl alle den Engel tanzen, tanz du den Teufel!“. Beim Butoh geht es nicht darum zu gefallen. Henriette Heinrichs will, dass die Teilnehmerinnen zu den inneren Schichten ihres Seins vordringen, zum Animalischen, Mörderischen, und lernen, es tanzend auszudrücken.

16 Frauen, von Anfang 20 bis Mitte 40, geben sich alle Mühe, den Tiger in sich zu wecken. Im Nacken sträuben sich die Haare. Die Finger werden zu Krallen. Geduckt, misstrauisch beäugen sich die vermeintlichen Raubtiere und fauchen sich an. Dann läutet Henriette Heinrichs mit einer Glocke die Metamorphose ein. Aus den gefährlichen Katzen werden harmlose Schafe, die mit dümmlichem Gesichtsausdruck kauend hin und her trappeln. „Kling“, und schon erwachsen aus den Pflanzenfressern stolze griechische Statuen.

Butoh lebt von Körper-Metamorphosen. Der avantgardistische, aus dem Japan der 60er-Jahre stammende Ausdruckstanz sieht weder Schritte noch Regeln vor. Es geht allein darum, „die Form der Seele zu enthüllen“, wie Heinrichs es beschreibt. Auch unverblümte Hässlichkeit will gelernt sein. Hemmungen oder Scham sind dabei fehl am Platz. Die Frauen sollen nicht das Gefühl haben, dass sie sich zum Affen machen, wenn sie sich als Schaf oder Tiger durch den Raum bewegen.

16 Seelen und ihre Befindlichkeiten: Die einen haben keine Arbeit, andere sind auf irgendetwas wütend. Manche suchen einfach nur Spaß. Eine Frau steht zwischen zwei Männern, eine andere vor einer wichtigen Entscheidung. Die intimsten Fragen werden in wenigen Sätzen ausgepackt und in die Tanz-Runde geworfen.

Beim Wirbelsäulengespräch sitze ich mit einer Frau Rücken an Rücken. Mal zuckt ihre Schulter, mal meine Nierengegend. Wir räkeln uns aneinander herum. Ihr kurzhaariger Hinterkopf reibt an meinem Nacken. Später, bei einer Raubtierübung, zwinkert sie mir zu und sagt: „Na, du kleine Katze.“ Ich schlucke.

Am Abend des ersten Tages stellen sich alle hintereinander in einen Kreis. Jede massiert ihrer Vorderfrau den Rücken. Einige atmen schwer, seufzen leise, nach dem Motto: Heute sind wir unter uns und tun uns mal so richtig was Gutes. Henriette Heinrichs bietet ihre Workshops in der Schokofabrik nur für Frauen an. So wie der Butoh-Vortänzer Tatsumi Hijikata glaubt sie, dass Frauen eher in der Lage sind, das Instinktive nach außen zu kehren, als Männer.

Massage weckt keinen noch so friedfertigen Tiger. Der zweite Tag beginnt mit einer Reise in die eigene Vergangenheit. „Wenn man Ausdruckstanz macht, muss man auch wissen, was drinnen ist.“ Breitbeinig stellen wir uns hin und starren auf einen Punkt an der Wand. Unsere Körper werden zu Glocken, wackeln vor sich hin.

Ich selbst komme mir entgegen, schaue mir in die Augen. Dieses zweite Ich geht durch mich hindurch und wandert hinter mir in die Vergangenheit, während mein Körper unaufhörlich hin und her wippt. Bilder steigen in mir auf von früher, von Freunden, von zu Hause, von meiner Kindheit. Eine Situation sollen wir festhalten, uns auf das Gefühl konzentrieren, es immer stärker werden lassen und es schließlich in Bewegung umsetzen.

Um mich wird es unruhig. Während ich harmonisch mit Armen und Beinen in der Luft herumwedele, schneidet eine Japanerin neben mir schreckliche Grimassen und wirft den Oberkörper immer wieder nach vorne. Eine andere hat den Absprung nicht geschafft, sie wackelt immer noch wie eine Glocke und beginnt dann zu weinen. Meine Nachbarin macht gar nicht mehr richtig mit. Sie hat abgebrochen. „Die ganze Junkie-Suppe von früher soll jetzt echt nicht hochkommen.“

Die Geister, die sie rief, wird Henriette Heinrichs so schnell nicht wieder los. Die Erinnerungen überschatten den ganzen zweiten Tag. Irgendetwas wurde geweckt, wenn es auch nicht die weibliche Urkraft war.

ANTJE LANG-LENDORFF

Preis: 90 Euro, ermäßigt 72 Euro Veranstaltungsort: Schokofabrik (s. Bericht S. 33), Mariannenstr. 6 Anmeldung im Büro: Naunynstr. 71, Tel. 6 15 53 91Infos zu Butoh-Kursen und Workshops mit Henriette Heinrichs unter www.schokosport.de