Europa-Fahnen für den Kriegsfall

Früher arbeitete die Irakerin Umm Dany als Fremdsprachensekretärin, besaß ein Eigenheim und ein Auto. Heute hält sie sich als Näherin über Wasser und weiß nicht, wie sie sich und ihre Kinder ernähren soll. Die Geschichte eines irakischen Absturzes

aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY

Unermüdlich zieht Umm Dany in ihrer Bagdader Wohnung das blaue Tuch mit den gelben Sternen durch ihre alte polnische Nähmaschine. Die irakische Näherin schneidert EU-Fahnen für den Ernstfall. Hunderte davon sollen in gefährlichen Situationen den kriegerischen Parteien signalisieren, dass Mitarbeiter europäischer Hilfsorganisationen keine Zielscheibe sind – sei es, wenn die Amerikaner kommen, oder im Falle, dass ein Bürgerkrieg ausbricht.

In allen Größen näht Umm Dany sie, große Flaggen für Autos, kleine Wimpel oder als Schürze zum Überziehen. In Auftrag gegeben hat sie ECHO, die Hilfsorganisation der Europäischen Kommission. Über drei Ecken erhielt Umm Dany durch viele Zufälle den Auftrag.

Das Ganze, sagt die Mutter von drei Kindern, sei in allerletzter Minute gekommen. Sie hatte keinen müden Dinar übrig, um sich selbst auf den Krieg vorzubereiten. Umm Dany lebt mit ihren Kindern in einer heruntergekommenen Zweizimmerwohnung im Mittelklasseviertel Karada, das wie die Irakerin bereits bessere Zeiten erlebt hat. „Ich fühle mich wie ein Blatt im Wind, das keinen Einfluss darauf hat, wohin es getragen wird“, beschreibt die 43jährige ihr bisheriges Leben. Und die irakische Brise hat es nicht gut mit ihr gemeint. Früher hatte sie ein Eigenheim, besaß ein Auto und trug viel Gold am Arm. Sie arbeitete als englischsprachige Sekretärin für eine Schweizer Firma. Ihre Familie machte regelmäßig Urlaub im Libanon, in Syrien und in der Türkei. Selbst nach Griechenland ist sie einmal gereist.

Dann begann der iranisch-irakische Krieg. Ab Mitte der 80er-Jahre ging es abwärts mit der Familie, ganz besonders als die Leiche ihres Mannes von der Front „als Märtyrer“ zurückkam. Die Schweizer Firma für Sanitäranlagen machte ihr Büro dicht, weil die irakischen Kunden nicht mehr zahlen konnten. Es folgte die Kuwait-Invasion, zwölf Jahre UN-Sanktionen und eine weitere, gescheiterte, Ehe.

In dem ehemaligen Eigenheim wohnt ein neuer Besitzer. Das Auto wurde verkauft und Umm Danys Arme und Hände sind heute, statt mit Gold behangen, von schwerer Arbeit gezeichnet. Es ist das typische Trauerspiel des Absturzes der irakischen Mittelklasse. Heute weiß Umm Dany oft nicht, woher sie das Essen für sich und ihre Kinder nehmen soll. An vielen Tagen gibt es nur Brot und Linsen. „Mein halbes Leben habe ich im Krieg gelebt“, sagt sie. Der Krieg mit dem Iran habe ihren Niedergang eingeläutet und die UN-Sanktionen hätten sie völlig fertig gemacht. Oft, sagt sie, habe ihr das Leben mehr aufgebürdet, als sie ertragen könne.

Ihr 18-jähriger Sohn Danny hat eine Krankheit, wegen der alle drei Jahre seine Schädeldecke geöffnet werden muss. Es ist längst wieder Zeit für eine Operation, aber Umm Dany hat kein Geld. So muss ihr Sohn aufgrund des Drucks auch nachts mit offenen Augen schlafen.

„Manchmal bin ich hysterisch, meist aber depressiv“, erzählt Umm Dany. Dagegen bekomme sie gelegentlich Pillen verschrieben. Erst vor wenigen Monaten hatte sie die Idee, für sich und ihre Kinder einen Giftkuchen zu backen, als sie nicht mehr weiter wusste und ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte. Vor vier Monaten ist der Vermieter mit seiner Familie angesichts des bevorstehenden Krieges nach London verreist. „Ohne Vermieter keine Miete.“ Umm Dany lächelt, aber nur kurz.

Die Wohnung selbst ist spartanisch leer. Zwei Sofas stehen in einem Zimmer neben einem Fernseher, dem einzigen Luxusgut im Haus. Im anderen Zimmer stehen die Betten und die Nähmaschine. Die Wände sind kahl, abgesehen von ein paar Fotos der Familie aus besseren Tagen. „Frage mich nicht, was ich von der Zukunft erwarte, sondern was ich von ihr erhoffe“, sagt die Näherin. Sie hoffe, irgendwann genug Geld zusammenzukratzen, um Bagdad mit ihren Kindern zu verlassen, irgendwo hin, wo es nicht ständig Krieg gäbe. „Wenn ich Geld übrig hätte, würde ich es für ein Flugticket sparen“, sagt sie.

Falls sich die Dinge in Zukunft zum Besseren wenden, hofft sie vor allem, dass ihre Kinder etwas davon haben werden. „Für mich ist es zu spät“, erklärt sie resigniert. Weniger der Verlust materieller Dinge sei schwierig, als zu sehen, was mit ihrer Familie geschehen ist. „Am meisten habe ich bekommen, wenn es mir selbst möglich war zu geben. Das nicht mehr zu können, war in meinem ganzen Niedergang die schmerzlichste Erfahrung.“