gammelrochen und andere essbare biowaffen von HARTMUT EL KURDI
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Eigentlich dachte ich, dass mich nichts, was sich Menschen als Nahrung in Mund und Schlund schieben, noch erschüttern könnte. Immerhin bin ich in einer Gegend aufgewachsen, in der man sein Mittagessen auch schon mal aus Berlin anreisen lässt, es mit dem Auto vom ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe abholt, nett mit ihm plaudert, Weinchen, Küsschen, bis man schließlich anfängt, es von untenrum aufzuessen.

Apropos Essen in Hessen: Als Kind verweigerte ich manchmal wochenlang den Kontakt mit meiner aus dem Vogelsberg stammenden Mutter, weil sie mal wieder eine Ladung reifen, nach Schweinedung muffenden „Handkäs“ im Kühlschrank deponierte. Bis heute will mir nicht in den Kopf, wieso man etwas, das so eindeutig nach ungewaschenem Popo riecht, in den Mund nehmen soll. Als mir diese angeblich essbare Biowaffe nach meinem Umzug ins Niedersächsische dort unter ihrem ostfälischen nom de guerre „Harzer Roller“ wiedergängerisch auflauerte, begann ich, Pamphlete gegen den fiesen Sauermilchkäse zu schreiben. Einmal ließ ich mich sogar dazu hinreißen, ihn als „Goebbels unter den Molkereiprodukten“ zu bezeichnen, aber leider konnte ich niemanden für mein Leiden an der Viktualienwelt interessieren. So stumpfte ich schließlich ab. Vielleicht war ich auch nur des Kämpfens müde.

Heute kann man mir den Handkäs meinetwegen hinter die Heizung kleben, ich werde es ignorieren. Ich zucke auch nicht mit der Wimper, wenn jemand neben mir „Braunkohl mit Bregenwurst“ – eine Braunschweiger Spezialität, die genauso schmeckt, wie sie klingt – in sich hineinwürgt, dabei das aus der Hirnwurst heraustretende Fett über seine beiden Lefzen auf den Teller zurückfließen lässt und anschließend sauer aufstößt und „Mhm, lecker!“ stöhnt. Mir doch egal. Ich bin immun gegen die Fiesheiten der deutschen Regionalküche.

Neulich musste ich jedoch kurz schlucken. Gelangweilt zappend stolperte ich in einen Fernsehbericht über die Essgewohnheiten der Isländer, in dem es zunächst um Speise-Banalitäten wie „Trockenfisch“ und „Gesengte Lammköpfe“ ging, dann aber ein kulinarischer Knaller präsentiert wurde, der einem buchstäblich den Atem raubt: der traditionell am 23. Dezember aufgetischten „Gammelrochen“. Dazu lässt man einen toten Rochen vier Wochen in einem Bottich vor sich hin faulen (!), nimmt dann den verwesten, grün schimmernden nach der „Nacht der lebenden Toten“ stinkenden Fisch heraus, entbeint ihn, kocht ihn zusammen mit ausgelassenem Schafsfett zu einer zähen Matschepampe – und voilà: Ein auf Weltniveau aasig-nasenzersetzendes Vorweihnachtsessen ist fertig. Dazu trinkt man frische Milch, wahrscheinlich weil die Faulgase im Magen neutralisiert werden müssen. Die gestopften Adventsgäste könnten ja ansonsten explodieren, wenn sie zu später Stunde nach Hause kommen, den Lichtschalter betätigen und in diesem Moment aus Versehen gerade ausatmen.

Verstört ertappte ich mich bei der Frage, warum eigentlich ein hungriger Rotenburger vor Gericht steht, 280.000 Isländer aber frei herumlaufen. Dann nahm ich einen milden Imbiss und ging beichten.