zahl der woche
: Auch Frankreich hat jetzt sein Defizitverfahren

Brüsseler Haarspaltereien

Wenn in Israel orthodoxe Juden streiten, ob man am Sabbat kochen oder spazieren gehen darf, fassen wir uns an den Kopf. Der Sabbat dient der Erholung, und wer sich beim Spazierengehen erholt, der gehe spazieren. Jetzt erleben wir eine ähnlich orthodoxe Haarspalterei vor der eigenen Tür, nämlich in Brüssel. Dort prüft die EU-Kommission ernsthaft, ob Frankreich letztes Jahr sein Haushaltsdefizit von 3,04 auf 3 Prozent abgerundet hat. 3 Prozent sind die Obergrenze, bis zu der sich ein Land jedes Jahr neu verschulden darf. So steht es im Stabilitätspakt von Maastricht. Wenn aber Debatten über die zweite Stelle hinter dem Komma zur Regel werden, würde die Absicht der Begründer ad absurdum geführt, die Politik der Länder zu harmonisieren und der Neuverschuldung einen Riegel vorzuschieben.

Bis jetzt war der Club der Maastricht-Sünder recht exklusiv. Lediglich Portugal und Deutschland hatten ein Verfahren wegen zu hoher Schulden am Bein. Doch seit vorgestern Abend steht fest, dass auch Frankreich wegen schlechter Haushaltsführung von Brüssel belangt wird. Auf 3,4 Prozent soll das Defizit in diesem Jahr steigen. Und Italien steht ebenfalls kurz vor der Aufnahme in den Club. Alle drei Länder haben nun zwölf Monate Zeit, ihre Haushaltslage zu richten. Erst dann drohen Sanktionen.

Weil es schwierig ist, drei oder vier Länder – darunter die Schwergewichte Deutschland und Frankreich – auf einmal wegen falscher Politik zu verwarnen und womöglich auch irgendwann zu bestrafen, wird inzwischen laut darüber nachgedacht, dass vielleicht der Maastricht-Vertrag selbst falsch ist. Schließlich sind die drei Kriterien – neben der Defizitgrenze sind das die Gesamtverschuldung und die Inflationsrate – recht willkürlich gewählt worden. So plädieren etwa Bundeskanzler Gerhard Schröder und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (beide SPD) dafür, die Defizitgrenze im Falle eines Krieges aufzuweichen. Und seit Kommissionspräsident Romano Prodi den Pakt im Herbst 2002 als „dumm“ bezeichnete, steht zur Debatte, ob man nicht generell zwischen „strukturellem“ und „konjunkturellem“ Defizit unterscheiden sollte.

Das macht Sinn. Umso orthodoxer wirkt dagegen die Kommission, wenn sie sich mit der Abrundung des französischen Defizits beschäftigt.

KATHARINA KOUFEN