Schiffspassagen

Viel mehr als nur Hamburger Stadtgeschichte: Gerd Fuchs liest heute aus seinem Roman „Die Auswanderer“

Wenn der erste Satz sitzt, dann hat man sie. Igor Tatlin verdient sein Geld damit, den Geprellten Europas Geschichten aus Amerika zu erzählen. Dass er es dabei mit der Wahrheit so wenig genau nimmt wie mit Recht und Gesetz, versteht sich von selbst. Schließlich bezahlt ihn die HAPAG dafür, dass er Leuten Billetts verkauft für eine Schiffspassage nach Übersee. Den vom Zar geknechteten russischen Rekruten, die sich zur Desertion entschieden haben, besorgt Tatlin dann schon auch mal falsche Papiere.

Die Stimme des Werbers, Schlitzohrs und Frauenhelden hat sich der Hamburger Autor Gerd Fuchs (unter anderem Schinderhannes und Stunde Null) geliehen für sein Kaleidoskop unterschiedlichster Motivationen, die Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts zur Auswanderung trieben. Nach einer ersten Veröffentlichung im Rahmen eines Ausstellungsprogramms der Hamburger Studienfahrten ist sein historischer Roman Die Auswanderer nun völlig neu bearbeitet bei Nautilus erschienen.

Eine jüdische Familie auf der Flucht vor Pogromen im damaligen Russland, eine Nonne, die keine mehr sein will, weil sie die Nase voll hat davon, in Karibib die von den deutschen Kolonisatoren ausgepeitschten Schwarzen wieder zusammenzuflicken, ein junger Arzt, der den Cholerakranken in Hamburg nicht helfen konnte, weil Unterernährung der Grund für ihren schnellen Tod war, ein Diamantenhändler auf der Flucht vor seinen Gläubigern und viele mehr: Sie alle treffen sich in den Quarantäne-Baracken, die Hamburg zusammen mit der HAPAG auf der Veddel errichtet hat. Denn die Auswanderer bringen Geld – für Reederei und Fiskus. Unhinnehmbar, dass die preußische Regierung die Grenzen gesperrt hat, weil sie die Armen aus dem Osten für die Cholera-Epidemie verantwortlich macht. Sogar Gesundheitschecks lässt die HAPAG an den Außengrenzen des Reichs durchführen auf eigene Kosten, damit die Passagiere nicht ausbleiben.

Obwohl Gerd Fuchs derartige Geschäftsmethoden und auch die Not verhandelt, die Menschen zur Flucht zwingt, macht er doch keine seiner Personen zum Opfer. Vielmehr setzt er jede von ihnen ins Recht, indem er ihre Gründe auszuwandern vieldimensional für uns auffächert. Und montiert – zu einem Stück gründlich recherchierter Geschichte „von unten“.

Christiane Müller-Lobeck

Lesung: heute, 20 Uhr, Stadtteilarchiv Ottensen, Zeißstr. 28Gerd Fuchs, Die Auswanderer, Edition Nautilus, Hamburg 2002, 256 S., 19,90 Euro