Kein Halten beim Geschichtsunterricht

Alle lieben old skool: Der Vater des HipHop und Erfinder der Scratch-Technik ist für ein Konzert nach Berlin gekommen und zelebrierte eine große Nacht der ehrlichen Pose und des freundlichen Pogos. Grandmaster Flash legte im XMF auf

Gute Nacht im ehemaligen WMF in der Ziegelstraße. Draußen schneien die Wassertropfen vom Himmel, hinter der Türe wird es warm. Sehr viele Mädchen und Jungen sind gekommen, um eine Legende zu sehen. Die trägt den bescheidenen Namen Grandmaster, größer, mächtiger geht nicht mehr. Vielleicht auch ganz okay für jemanden, der dem HipHop zur Größe verholfen und das Scratchen erfunden hat. Auf jeden Fall passender als Joseph Saddler, sein richtiger Name.

Um kurz nach halb zwei betritt ein dunkelhäutiger 45-jähriger Mann im schwarzen Pullover, Basecap auf dem Kopf die Bühne. Der Vater des HipHop und DJ ist da. Direkt vor ihm sein Pult mit zwei Plattenspielern, dahinter im Blick eine Menge Mädchen und Jungen, die ihm freudig ihre Arme entgegenstrecken, Zeigefinger und kleiner Finger ausgestreckt, im Rhythmus wippend. Schrille Pfiffe. Sie stehen dicht gedrängt auf der Tanzfläche, auf Bierkisten, den Boxen. Der ganze Raum scheint eine lebendige Masse zu sein. Der Master hebt das Mikrofon und spricht. Seine Stimme, rau und tief. Er redet und redet. Wann geht’s endlich los? Nicht so schnell.

Der Mann hält eine Ansprache. Er erzählt, welche Klänge er dem Publikum heute schenken will. Dazu holt er weit aus, sehr weit: „When I was young …“, als ich noch nicht berühmt war, keine Platten veröffentlicht und keinen Vertrag hatte. Genau diese Musik will er heute Abend spielen. Ja damals, das muss Anfang der Siebzigerjahre gewesen sein. New York, Bronx, damals noch ein richtiges Ghetto mit Feuer auf der Straße, Bandenkrieg, junge Männer wie der kleine Joseph aller Zukunftschance beraubt. Die große Langeweile. Klima für beste Ideen, also tanzen. Zusammen mit Freunden lud Grandmaster auf die Straße.

Kinder, Jungen, Mädchen, Erwachsene, Großväter, alle kamen und waren beeindruckt vom neuartigen Umgang mit Vinyl, von Saddler auf dem Plattenteller stimmig hin und her geschoben. Die Bronx-Bewohner begangen zu tanzen, lässig, locker befreit, entspannt; um die historische Dimension der Geburtsstunde von HipHop zu fassen, war nicht genügend Aufmerksamkeit. Aber was ist schon Historie? Geschenkt. Nur müssten wir heute in einer Welt ohne Mary J. Blige, ohne Eminem, ohne Fat Boy Slim, ohne Kiss FM leben, hätte Grandmaster Flash vor fast 30 Jahren seine eingesperrte Energie nicht mit Macht nach außen geschleudert.

Heute Abend ist also old skool, wie der Meister ankündigt und laut über die Köpfe schreit: „I like old skool.“ Im Gegensatz zu den USA, wo sich kaum jemand für etwas anderes als aktuelle Musik interessiert, gefällt das dem Publikum in Europa. Drei Regeln gibt der Master noch mit: Hände, Krach und tanzen. Dann geht’s los, genug geredet. „HipHop hurray …“ Jungs mit tief sitzenden Hosen, vereinzelt auch Rucksack auf dem Rücken und Mädchen mit engen T-Shirts, bunten Tüchern im Haar und Bierflasche in der Hand fangen an zu tanzen. Relaxte Bewegungen, alle scheinen sich zu amüsieren, die Menge fließt dahin, der Flow ist da, die Posen sind ehrlich. Das Aroma von verbranntem Gras liegt in der Luft, in manchen Ecken sehr stark. Alles etwas klischeehaft? Nicht wirklich, auf den Toiletten gibt es auch Speed. Vor der Bar tanzen drei Mädchen, zwei Zungen berühren sich tief, ein Paar Lippen umkreist den Bauchnabel.

Dann macht Grandmaster Flash einen Fehler. Er fängt mit „No War“-Rufen an und nennt Bush ein Arschloch. Wie langweilig. Eine sichere Bank, diese Aktion, hat er doch gar nicht nötig. Aber der Meister wäre nicht der Master, würde er so einen Schnitzer nicht sofort wieder ausbügeln. Sein nächster Track ist: „Billie Jean“. Kein Halten mehr, alle HipHoper tanzen euphorisiert mit Michael Jackson freundlichen Pogo. Hände, Krach, tanzen. Weiter. HENNING KOBER