Doktor Fäustchen pfeift im Wald

Der südafrikanische Polizist Corrie Sanders benötigt exakt 207 Sekunden, um den Ukrainer Wladimir Klitschko viermal auf die Bretter zu schicken und ihm den WM-Titel nach WBO-Version zu entreißen. Reines Glück aber war dies keineswegs

von FRANK KETTERER

Manchmal ist es einfach gut, wenn die Dinge geregelt sind wie früher auf dem Schulhof: erst kess ’ne dicke Lippe riskieren, dann aber, wenn’s richtig eng wird, lieber den großen Bruder vorschicken, damit der die Dinge richtet. Für Wladimir Klitschko war es am Samstagabend in der Preussag-Arena zu Hannover verdammt eng geworden. Und die dicke Lippe hatte der kleine Klitschko nicht nur riskiert, sondern nach ein paar schweren Hieben aus den Fäusten von Corrie Sanders sich tatsächlich eingefangen, man konnte das sogar sehen. Der WM-Kampf der World Boxing Organization (WBO) jedenfalls war bereits beendet, was schnell der Fall gewesen war, es dauerte ja auch nur eine Runde und 27 Sekunden, ehe Wladimir zum vierten und letzten Mal Richtung Ringbretter sank. Nun, da dem Südafrikaner Sanders der WM-Gürtel umgeschnallt worden war, nutzte Witali, der große Bruder, die Gunst der Stunde. Er tippte Sanders an, hob mahnend den Zeigefinger und redete wild erregt auf den Titeldieb ein. Was der große Klitschko da schimpfte, war in all der Aufregung natürlich nicht zu verstehen, leicht aber kann man sich vorstellen, dass es der ein oder andere Satz war, den man aus all den Rocky-Filmen kennt und der bestimmt donnernd auf Sanders herniederkrachte: „Ich oderr mein Brruderr werrden den Titel zurrückholen. Wirr werrden dich verrnichten.“

Ganz sicher hat Witali etwas wie dies gesagt, sein kleiner Bruder hat es später ja sogar wiederholt, wenn auch weniger drohend, weil immer noch geschockt von der so unerwarteten Niederlage: dass er wiederkommen werde. Dass er sich den Titel zurückholen werde. Dass er nach diesem bitteren K. o. stärker sein werde als je zuvor. „Dann“, kündigte Wladimir Klitschko an, „werde ich zeigen, wo es langgeht.“ Es klang wie Pfeifen im Walde.

Zu diesem Zeitpunkt hatte man sich in der Ecke des ehemaligen Titelverteidigers längst darauf verständigt, dass die Niederlage nach 207 Sekunden nichts war als purer Zufall. Wie hätte es auch anders sein sollen, galt der Polizist aus Pretoria doch als vom Klitschko-Management gut ausgewähltes und ebenso sicheres Opfer: mit 37 die beste Zeit seines Boxer-Lebens längst hinter sich, in den letzten beiden Jahren gar nur zweimal zu Kampfzwecken in den Ring gestiegen. Was sollte da schon schief gehen? Dass Sanders den stolzen Doktor Faust in Windeseile zum Doktor Fäustchen zusammengefaltet haben würde, dürfte er vor dem Kampf nicht einmal selbst zu träumen gewagt haben. Dass es so geschah, konnte aus dem Blickwinkel des Klitschko-Clans nicht anderes sein als: Zufall. Bloßes Glück. Die Boxer haben dafür eigens einen Begriff erfunden: Lucky Punch.

Alles Quatsch! Die Niederlage vom Samstag war mitnichten Zufall. Klitschko hatte nicht Pech, er war einfach überrumpelt worden von der Schnelligkeit seines Gegners und von dessen Stärke. Schon zum Ende der ersten Runde kassierte der Ukrainer zwei Hämmer, die ihn kurz zu Boden zwangen, danach verlor er die Fassung – und die boxerische Linie. „Ich wollte mich revanchieren und bin reingesprungen“, beschrieb Klitschko später. Das war sein größter Fehler. Der 26-Jährige versuchte mitzuprügeln, anstatt sich Sanders zunächst einmal vom Leib zu halten, wie es klug gewesen wäre und für einen boxenden Akademiker sich geziemend. Auch nach der Ringpause fäustelte Klitschko mit Wut – und keineswegs mit Kopf, erneut krachte ein Treffer auf diesen und brachte die Beine zum Wegknicken. Es wäre Lucky Punch Nummer drei gewesen, aber es gibt keine drei Lucky Punches, nicht in einem Kampf. Und so war auch der vierte Treffer nur ein paar Sekunden später nicht dem Glück geschuldet, sondern eindeutig Sanders Stärke zu Kampfbeginn. Und Klitschko damit versenkt.

Dass Wladimir Klitschko die Chance erhält, sich den Titel zurückzuholen, ist dennoch nicht ganz unwahrscheinlich. Gut möglich, dass die Verpflichtung zum Rückkampf bereits im Vertragswerk für diesen Kampf formuliert steht, der Fight gegen Sanders war schließlich eine Pflichtverteidigung. Das Image der boxenden Gebrüder aus der Ukraine hat dennoch Schaden genommen, dumm auch, dass ausgerechnet diese Klopperei live in den USA im Fernsehen zu sehen war. Dort wird man die Klitschkos nun wieder eher als Fäustchen- denn als Faust-Doktoren handeln.