Warten im Wintermärchenland

Der Engadin Skimarathon ist der zweitgrößte der Welt. Heuer gingen 11.261 Teilnehmer und ein taz-Redakteur an den Start

Aus der Loipe von St. Moritz BERNHARD PÖTTER

Es war ein packendes Finish: Vier Läufer bogen auf die Zielgerade ein und skateten wild um den Sieg. Nach 42 Kilometern und 1:28 Stunden entschieden ganze zwei Sekunden über den Sieg beim 35. Engadin Skimarathon: Der Lokalmatador Patrik Mächler hatte im Fotofinish die Nase vorn, zwei Sekunden vor dem 50-Kilometer-Weltmeister, dem Tschechen Martin Koukal. Vorjahressieger Juan Jesús Gutiérrez aus Spanien wurde eine weitere Sekunde später Dritter.

Bei uns ging es nicht ganz so rasant zu. Um 10.08 Uhr, als im Ziel in S-chanf bereits die Entscheidung fiel, standen hunderte von Volksläufern bei Kilometer 15. Genau: Wir standen. Und warteten. Darauf, dass wir den Aufstieg kurz hinter St. Moritz in Angriff nehmen konnten. Dass wir uns endlich in die lange Schlange einreihen durften, die sich im Gänsemarsch und Skatingschritt für Skatingschritt durch den schienbeinhohen Sulzschnee nach oben kämpfte. Denn der Volksläufer braucht für den Engadin Skimarathon nicht nur das richtige Training und die richtige Ausrüstung, sondern vor allem: Geduld.

Das Warten lohnt sich. Sonst kämen nicht an jedem zweiten Sonntag im März über 10.000 Skilangläufer (in diesem Jahr exakt 11.262) in das Oberengadin bei St. Moritz, um am zweitgrößten Skilauf (nach dem Wasalauf in Schweden) teilzunehmen. Seit 35 Jahren lockt die Strecke durch das knapp 1.800 Meter hoch gelegene Tal die Läufer an – in diesem Jahr Sportlerinnen und Sportler aus 37 Nationen. Auf den zugefrorenen Seen lässt sich mit Schwung langlaufen. An dem halben Dutzend größeren und kleineren Steigungen, die die Nadelöhre der Strecke sind, lässt sich mit jeder Menge Muße verschnaufen.

Der Engadin Skimarathon ist bei den Spitzensportlern beliebt – auch wenn keine Startgelder gezahlt werden. Er ist der letzte von acht Läufen im FIS-Marathon-Cup, der in der Wintersaison etwa in Tschechien, Estland, Schweden, Deutschland, Kanada und der Schweiz ausgetragen wird. Bei den Herren setzte sich am Sonntag der Norweger Joergen Aukland als Gesamtsieger durch. Bei den Frauen lag die Italienerin Lara Peyrot schon vor dem Rennen uneinholbar vorn.

„Uns liegen die knapp 11.500 Freizeitläufer genauso am Herzen wie die Spitzenathleten“, sagt derweil Organisationschef Emil Tall. Kein Wunder: Bringen doch die Besucher das Geld ins Engadin, das den Skimarathon laut einer Studie der Universität St. Gallen zur Sportveranstaltung mit der größten Wertschöpfung in der Schweiz macht.

Wir Freizeitläufer lieben den Marathon, weil wir am Ende der Saison unsere neuen Ski ausführen und unsere Kondition beweisen können. Dafür wappnen wir uns mit Geduld: Wir warten eine halbe Stunde auf den Bus, der uns morgens in den Startraum bringt. Wir warten im Startraum, weil wir in der letzten Startgruppe stehen, 40 Minuten nach den Profis losgelassen werden und viermal die Aufwärmgymnastik der Schweizer Unfallversicherungsanstalt SUVA mitmachen. Wir warten auf der Strecke auf einen freien Platz in der Aufstiegskarawane. Wir warten nach Erreichen des Ziels 40 Minuten auf den Zug, der uns nach St. Moritz unter die Dusche bringt. Aber dafür gleiten wir durch ein Wintermärchenland, dafür reichen uns Zuschauer und Freiwillige die Schweizer Nationalbrause und fair gehandelte Bananen, dafür sehen wir an der berüchtigten steilen Abfahrt vor Pontresina, wie Nummer 52.752 bremst, indem sie einfach in den Vordermann fährt und sich festklammert.

Für die Normalläufer bleibt die Marathonstrecke sechs Stunden lang offen. Für die Spitzenathleten ist alles nach eineinhalb Stunden vorbei. Nach Mächlers Sieg macht Natascia Leonardi Cortesi den Schweizer Doppelerfolg perfekt. Die Marathonsieger bieten damit Balsam für die weiße Seele der Schweiz. Denn die Eidgenossen leiden auch nach den Weltmeisterschaften der Alpinen in St. Moritz (Ausbeute : zwei Silber-, zwei Bronzemedaillen) und der Nordischen Skiweltmeisterschaft in Val di Fiemme (Ausbeute: null) weiter an einem angeknacksten Selbstverständnis als Skination. Vorbei sind die Zeiten der Olympischen Spiele in Calgary, als die Schweizer 14 Medaillen, davon 4 goldene, abräumten. Heute haben die Schweizer Skifahrer ihren Nimbus verloren – und das ausgerechnet an die Nachbarn und Rivalen aus Österreich. Wird die Schweiz nur noch die Kulisse für den Skizirkus abgeben? Zumindest momentan hat seit dem Erfolg der unter Schweizer Flagge fahrenden „Alinghi“ beim America’s Cup vor Neuseeland das Segeln den Skisport in den Medien in den Hintergrund gedrängt. Selbst die NZZ fragt sich bereits, ob aus der „Nation der Süsswasserkapitäne“ eine sportliche Seemacht werden könne.

Mit dem Schweizer Doppelsieg in S-chanf ist die Schweiz wieder ein bisschen mit dem Skisport versöhnt. Patrik Mächler war im Jahr 2000 bereits Vierter, vor zwei Jahren kam er als Sechster ins Ziel, nun der Sieg. Beim Engadin Marathon muss man einfach warten können.