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Archiv-Artikel

Pop ist ein Absturz

Teddy, der Inkommensurable (3): Theodor W. Adorno verachtete Jazz und Popular Music. Dennoch nahm er als Musiksoziologe die Themen aktueller Poptheorie vorweg. Aus zutreffenden Beschreibungen leitete er allerdings fragwürdige Bewertungen ab

Vergeblich schleppten junge Theoretiker Jimi-Hendrix-Platten zum ChefDer Jazzmusiker sollte enttarnt werden als Einverstandener mit seiner Impotenz Adorno erzählt brillante Geschichten vom Niedergang des Ausdrucks

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Er hat es nie bestritten: Seine Kindheit war glücklich. Und Musik spielte, wenigstens mütterlicherseits, eine große Rolle in diesem Glück. Auch ein größerer Psychologe, als ich es bin, wird nicht bestreiten, dass die Kopplung dieses Glücks mit einer sehr bald auch weitgehend selbstständigen Erarbeitung jeder Art von musikalischen Handwerkszeug, praktischem wie theoretischem, in frühen Jahren zu Adornos unerschütterlicher Überzeugung beigetragen hat, dass in der Musik etwas auch philosophisch Entscheidendes zur Debatte steht, was je nachdem als Wahrheit oder auch nur das Richtige bezeichnet werden kann. Man findet diese Überzeugung zwar meistens in der Gestalt der Negation. Aber aus der Genauigkeit und dem Fleiß, mit dem Adorno Lüge und Betrug immer wieder in der Musik und ihrer öffentlichen Organisation aufsuchte und -fand, kann man getrost schließen, dass man dort eben von Rechts wegen seiner Meinung nach etwas Anderes finden müsste, ein Gegenteil.

Warum aber betreibt jemand, der in der Immanenz der Musik so glücklich ist und auch so sicher, in ihr, der Welt des Nichtidentischen, dem nicht von Begriffs- und Identitätslogik geknechteten Anderen so nahe zu sein, ausgerechnet und überaus ausgiebig Musiksoziologie? Nun, weil auch für Adorno das Glück der Musik nicht vollständig ist, wenn man es ganz allein genießen muss. Die Musiksoziologie, die detaillierte und einflussreiche Erfindung von Hörertypen und die Kritik der bürgerlichen „Ideologie der Musik“ haben auch ihren Sinn in der negativ dialektischen Ermittlung einer „Gemeinschaft“, die diesen Namen natürlich genauso wenig je tragen darf wie „Elite“. Es geht aber um die Distanzierung von denen, die auch ein Erlebnis mit Musik haben, ein Erlebnis aber, das mit großen argumentativem Aufwand getrennt und unterschieden werden muss von dem eigenen, dessen Charakter sowieso eher selten positiv benannt wird.

Nun ist es mir nicht darum zu tun, durch die psychologische Benennung von Beweggründen und ihrer distinktionspolitischen Ziele die Befunde Adornos zu diskreditieren. Im Gegenteil. Mich interessiert das speziell bei seinen Musikessays und ganz besonders bei seinen Aggressionen gegen Jazz und so genannter Popular Music mich immer wieder berührende Gefühl, dass er eigentlich alles ganz treffend beschrieben hat. Nur die aus den Beschreibungen abgeleiteten Bewertungen stimmen nicht. Aber sonst ist alles richtig: In der Tat ist Standardisierung, nicht mangelnde Komplexität das entscheidende Kriterium, das Popmusik von anderer Musik unterscheidet. Und ja, Verräumlichung durch Wiederholung, Stasis, wurde, viel mehr, als Adorno ahnen konnte, zur Signatur der Popmusik-Entwicklung der letzten 50 Jahre – und die zentrale Methode minimalistischer Musik. Und die Fetischisierung bestimmter Fragmente eines doch nur als Ganzes richtig verstandenen Werkes zu Lieblingsstellen, zu so genannten Melodien hat sich ebenfalls in einer ungeahnten Drastik verschärft zur Fetischisierung noch viel kleinerer, nämlich Sounddetails.

Dies ist nicht nur von Adorno sehr früh richtig beschrieben worden, sondern es ist auch tatsächlich das Wesentliche am Unterschied von neuerer populärer Musik, also Popmusik, zu anderen Formen von Musik. Adorno hat also gerade aus der heuristischen Lage seiner individuellen Abgrenzungsnotwendigkeit seinen Blick auf die wesentlichen Merkmale fokussieren können und sich nicht wie so viele andere, gerade auch Musiksoziologen, mit den Nebensachen der Vermarktung, der Entfremdung und der Korruption aufgehalten. Die ihm natürlich auch bekannt waren.

Allerdings ist der Grund für diesen Scharfsinn nicht vor allem in der Genauigkeit des misstrauischen Blicks zu finden, sondern eher in gewissen Parallelen zwischen Adornos eigenen Absichten und denen der Popmusik bzw. derjenigen, die Popmusik nutzen. Denn nichts kennzeichnet die Nutzung von Popmusik so stark wie die Asymmetrie zwischen der Sicherheit der individuellen emphatischen Verbindung und der Unsicherheit ihrer öffentlichen Berechtigung, ihrer Realität, ihrer Objektivität, ihrer Wahrheit. Popmusikfans wissen immer ganz genau, dass sie eine starke Verbindung zu ihrem Gegenstand haben, aber dessen öffentliche Organisation ist immer prekär. Die anderen sind die falschen Fans oder ich bin falsch für die anderen oder meine Leidenschaft ist peinlich. Coolnessregeln und komplizierte Verabredungen über Zusammengehörigkeiten und richtige Interpretationen sind das Ergebnis einer zutiefst unklaren Beziehung zwischen individuellem und öffentlichem Gebrauch meiner Musik, der immer zwischen individueller Enttäuschung bei der öffentlichen Begegnung mit meiner intim favorisierten Musik und der totalen Euphorie über nie gekannte Gemeinschaftserlebnisse schwankt.

Auch Adorno hatte nämlich mit dem Auseinanderbrechen einer Sphäre zu tun, in der es noch eine Musik und einen Umgang gab (oder gegeben zu haben schien), in der die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft auch für das Verhältnis von privater Emphase und öffentlichen Gebrauch, zwischen Musikerlebnis und Musikleben sorgten. Die von Adorno sowohl musiksoziologisch wie musikimmanent beschriebenen Niedergangsphänomene scheinen alle von einem mehr oder weniger unsichtbaren Fluchtpunkt aus geschrieben zu sein, an dem ein solches Verhältnis noch heil war. Er war allerdings auch schlau genug, diese unbeschädigte Zeit immer dann weiter nach hinten zu verlegen (und nie offen zu verklären), wenn es konkret wurde. Natürlich war die bürgerliche Gesellschaft niemals heil. Dennoch schien sie danach zu verlangen, ihre Geschichte als die eines Verfalls, eines Absturzes aus hoher Höhe zu schreiben.

Adorno wollte trotz der Niedergangsperspektive nicht die Denkbarkeit der Musik, das ganz andere zu sein oder es zumindest aufscheinen zu lassen, aufgeben. Gleichzeitig konnte dies immer weniger vom real existierenden Musikleben aus gedacht werden, das in einen Spießerauftrieb einerseits und das Nerd-o-Rama Darmstadt andererseits zerfiel. Andere Milieus, die so was wie ein gelungenes Soziales auf musikalischer Basis behaupteten, brachten ihn auf – wie am berühmtesten die Welt des Jazz, mit der er am berühmtesten in einem Aufsatz abrechnete, den er unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler veröffentlichte.

Auch diese und andere Aggression lesen sich – so genau sie auch formuliert und argumentiert sein mögen – eher wie die eines parteiischen Anhängers und Verteidigers einer anderen Musik, nicht wie die eines Analytikers der Jazzsituation aus freien Stücken. Adorno wurde durch Jazz aufgebracht, weil sich hier eine soziale Alternative jenseits des bürgerlichen Musiklebens auftat. Und er wusste, dass Gegenargumente nicht nur aus der Immanenz der ungeliebten Jazzmusik gewonnen werden konnten. Er musste stärkere Geschütze auffahren. Jazz musste da getroffen werden, wo er sich als Alternative zu einer untergegangenen Welt aus Musik, als Versöhnung von Sinnlichkeit und Intellekt anbot, zwischen den Beinen: Der Jazzmusiker, besser der Typus, den er vertrat, wurde als Impotenter enttarnt, schlimmer: als mit seiner Impotenz einverstandener Sozialcharakter, der sich die eigene Unterwerfung als Freiheit inszeniert. Der gestattete kleine Ausbruch (Break, improvisierter Chorus) führt immer wieder freiwillig zurück unter das Joch eines standardisierten Themas. Der gestattete Ausbruch, die als freiwillig erlebte Unterwerfung – diese Motive kehren prominent wieder im „Kulturindustrie“-Kapitel der „Dialektik der Aufklärung“. Die an der Abwehr des Jazz gewonnene Wahrheit erweist sich als zentraler Zug des ganzen Zusammenhangs der Kulturindustrie.

Es ist oft darüber gestritten worden, welchen Jazz (natürlich den falschen, weich gespülten von Paul Whiteman) Adorno wann gehört hat und ob seine verschiedene Texte gegen den Jazz anders ausgefallen wären, wenn er besseren kennen gelernt hätte. In den 50er- und 60er-Jahren waren natürlich die deutschen Anhänger kritischer Theorie oft Jazzfans, und Mitstreiter der Kritischen Theorie wie Herbert Marcuse begeisterten sich, in den USA lebend, während der 60er für den ganzen Komplex aus afroamerikanischer und jugendkultureller Musik als Soundtrack der Befreiung. Man hört auch von Generationen begeisterter junger kritischer Theoretiker, die immer neue Jazz-Entwicklungen und schließlich sogar Hendrix-Platten in der Absicht, den Chef umzustimmen, vergeblich in die Sprechstunde geschleppt haben sollen.

Aber ich denke, dass der reale musikalische Referent der Jazztheorie eh nicht der Punkt ist: Adorno hatte ein ganz anderes Ideal einer Musik als utopisches Potenzial. Anders als der Popfan, der seine Ergriffenheit und das daraus abgeleitete ganz Andere in letzter Instanz mit der kontingenten Tatsache begründen musste, dass man nun mal Fan ist (in der Kindheit, Jugend, Sowieso-Krise plötzlich und unerwartet von genau dieser und genau keiner anderen Musik ergriffen wurde), wollte Adorno noch mit einer Objektivität musikalischen Gehalts argumentieren: Es steckt alles in der Komposition und deren Blödheit lässt sich argumentativ zeigen – und damit, dass meine Gefühle für eine andere unblöde Musik im Recht sind, und zwar, in letzter Instanz, als Gefühle argumentativ im Recht (was natürlich so nie ausgesprochen wurde).

Deswegen ahnte er aber auch so genau, dass man den neuen populären Musiken nur beikommt, wenn man sie bei dem (natürlich seinerzeit völlig unausgesprochen) Anspruch packt, der sie in Konkurrenz zu seinem eigenen Modell setzt. Und das war nicht einfach nur ihr musikalischer Gehalt. Deswegen tappte er nicht in die nahe liegende Falle, der Popmusik einfach nur unterkomplexe Kompositionen vorzuhalten, sondern bemühte sich gleich, die Sozialcharaktere fertig zu machen. Anders als die meisten Freunde und Feinde der Popmusik ahnt Adorno schon sehr früh, dass Popmusik ein ganz anderes System ist als Musik. Seine Defizite als Musik konnten nicht allein das Problem sein, obwohl sie berücksichtigt und in die Argumentation integriert sein mussten, denn es galt ja auch ein Denken zu verteidigen, das musikalischen Gehalt als Kategorie stark machte.

Er hätte auch Recht mit seinen Bewertungen, nicht nur seinen Beschreibungen haben können, wenn er nicht einen fundamentalen Unterschied stets übersehen musste, der beim Jazz schon einsetzt und bei Popmusik endgültig wird. Jazz und Popmusik sind nie ausdruckskünstlerisch zu verstehen gewesen. Adorno rennt offene Türen ein, wenn er das verdinglichte und fetischistische Verhältnis ihrer Akteure zu ihrem Material geißelt. Denn genau das ist ja der Witz an Jazz und Pop: Jazz ist eine Musik, die entstand, weil eine Kultur von aus der herrschenden Kultur Ausgeschlossenen sich der längst fertigen Ausdrucksmittel der Unterdrückerkultur bemächtigte und dieses Material von Anfang an als verdinglicht und in hohem Maße abstrakt verstand. Jazz beginnt am Fremdheitspol und arbeitet sich an diesem fremden Material im Laufe eines Jahrhunderts langsam musikalisch ab, zum Ausdruckspol hin und wieder zurück.

Zu einer Ausdruckskultur allerdings, die aber auf der mehrfachen Fremdheit eines Materials gründet, das nicht nur zu einem großen Teil das Ausdrucksinventar der anderen, wenn auch nicht immer antagonistisch gegenüberstehenden, so doch fremden Kultur ist, sondern außerdem auch sogleich industrialisiert und standardisiert erscheint. Diese Standardisierung des Europäischen hat aber auch immer etwas von einer doppelten Negation in der Perspektive der Afroamerikaner des frühen 20. Jahrhunderts.

Popmusik hingegen besteht nur noch aus gegebenen und vorgefundenen Zeichen. Sie beginnt erst nach dem Ende der Verfallsgeschichte, die Adorno erzählt. In ihr gibt es keine primäre Ausdruckskultur mehr, keine Subjektwerdung durch Anwendung einer verstandenen und überwundenen Sprache, sondern ein zunächst vollständig der kulturindustriellen Produktion ausgeliefertes Gebrauchen gefundener, fertiger und oft schon vernutzter Zeichen, die die Betreffenden aber als lebensrettend empfinden („My life was saved by Rock ’n’ Roll“): elektrisch verstärkte, technische Geräusche, von Tanz und Bildern untermalte und so vergrößerte Mini-Pointen, Fetisch-Sounds, Mode-Artikel. Im Gegensatz zum Jazz werden nicht einfach die vorgefundenen Melodien und Instrumente der anderen anders gespielt, also andere Töne selbst körperlich hervorgebracht, sondern die Aneignung geschieht durch elektrische Verstärkung, soziale und private Umcodierungen und einen fortgesetzten anderen Gebrauch inmitten der diesen Gebrauch zunächst begünstigenden hochgradig sekundären Welt.

Später in Sub- und Gegenkulturen entsteht dann so was wie eine neue Sprache, eine der Sprache Bricolage und des fortgesetzten Umbaus, die mittlerweile längst eine eigene vermittelte „Ausdrucks“-form hervorgebracht, ihre technische Form (digital sampling) gefunden hat und vielleicht auch ein bisschen müde geworden ist. Ihre Phänomene lassen sich prima beschreiben und eintragen in Adornos brillante Niedergangsgeschichte, aber bewerten lassen sie sich von dieser aus nicht. Denn sie haben am Nullpunkt des Ausdrucks begonnenen, eine ganz andere „Sprache“ zu entwickeln, die sich zur Tradition europäischer Musik verhält wie ein Cargo-Kult zu einer von Gott persönlich diktierten Gesetzestafel. Oder wie Fotografie zu Malerei.