CHINAS NEUE REGIERUNG: DIE WIRTSCHAFTSPROBLEME WERDEN AMTLICH
: Schluss mit dem Wachstumspatriotismus

Mit jedem Tag des in diesem Jahr zwei Wochen währenden Volkskongresses in Peking wird deutlicher: In China findet trotz Einparteiensystem und Kadergehorsam ein Regierungswechsel statt. Schon jetzt hat die neue Parteiführung unter Generalsekretär Hu Jintao den politischen Grundton verändert: China ist aus Sicht der Partei ab sofort kein armes Entwicklungsland mehr, für dessen Volk es sich ziemt, jede neue Autobahn dankbar zu beklatschen. Vielmehr ist China eine Gesellschaft auf dem Weg zum Wohlstand, deren größtes Problem es ist, den neuen Reichtum einigermaßen gerecht zu verteilen. Nun soll Wirtschaftswachstum vor allem dort gefördert werden, wo es der armen Bevölkerung dient.

Nie zuvor hat die Kommunistische Partei so große materielle, aber auch politisch-rechtliche Diskrepanzen unter der chinesischen Bevölkerung zugegeben wie in den letzten Tagen. Plötzlich ist es amtlich, dass China eine Eindrittelgesellschaft ist – und nur das Drittel in den Städten befindet sich auf dem Weg zum Wohlstand. Die Partei räumt nun auch die Einkommensunterschiede unter den Bauern und die Rechtlosigkeit von bis zu 200 Millionen Wanderarbeitern ein, denen endlich eine Absicherung geboten werden soll.

In der düsteren sozialen Bestandsaufnahme aber zeigt sich, dass Hu Jintao und sein designierter Premier Wen Jiabao ihre Hausaufgaben erledigt haben. Die Chinesen sollen wissen, dass die zwei keinen neuen asiatischen Tigerstaat übernehmen, sondern ein gigantisches, stets gefährdetes Entwicklungsprojekt. Vorerst ist Schluss mit billigem Wachstumspatriotismus. Zum Beweis dafür werden die Zuwächse im Militärhaushalt nahezu halbiert. Womit zugleich auch die Personalie Jiang Zemin geregelt ist: Der Altpräsident darf zwar noch als Oberbefehlshaber der Armee weiterdienen, doch mit seinem Geldsegen dürfen die Generäle nicht mehr rechnen. So suchen Hu und Wen nach dem Gründungsauftrag der Kommunisten, nach sozialer Gerechtigkeit – eine Aufgabe, deren Lösung im heutigen China von Tag zu Tag schwieriger wird. GEORG BLUME