Sozialrecht mit Sprengkraft

Die Charta gibt den Arbeitnehmern zahlreiche Rechte – und vielleicht auch bald die Möglichkeit, diese einzuklagen

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Joschka Fischer und Dominique de Villepin haben im Verfassungskonvent eine neue Initiative gestartet. Normalerweise macht derart zur Schau gestellte deutsch-französische Kumpanei die anderen Konventionalisten eher störrisch. Der neue Vorstoß trägt aber schon 91 Unterschriften – das ist in einem Konvent, der aus 105 Mitgliedern und einigen Beobachtern besteht, ein albanisches Ergebnis.

Die beiden Außenminister schlagen vor, die Grundrechtecharta „an herausgehobener Stelle“ in den europäischen Verfassungsvertrag zu übernehmen, „ohne dass dadurch neue Zuständigkeiten der Union begründet werden“. Wenn – wie auch die meisten Rechtsexperten glauben – durch die Charta keine neuen Ansprüche des Einzelnen entstehen und keine Kompetenzen auf Unionsebene verlagert werden, stellt sich die Frage: Warum erregt der Stellenwert der Charta die Gemüter so sehr?

Seit der Grundrechtekonvent unter dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Sommer 2000 seine Arbeit abschloss, ist die Diskussion nicht verstummt. Beim Europäischen Rat von Nizza hätte der Text eigentlich Vertragsrang erhalten sollen – wurde aber dann doch nur „feierlich proklamiert“ und verschwand danach wieder in der Schublade. Beim derzeit tagenden Konvent, der eine EU-Verfassung erarbeiten soll, sprachen sich von Anfang an die meisten Mitglieder dafür aus, die Charta dem neuen Text voranzustellen. Das hinderte viele Redner aber nicht daran, sämtliche Fragen noch einmal aufzuwerfen, die vor mehr als zwei Jahren schon den Grundrechtekonvent beschäftigt hatten.

Soll ein Gottesbezug in die Präambel? Muss Vollbeschäftigung als vorrangiges Ziel erwähnt werden – und was folgt daraus für die Arbeitnehmerrechte in den Mitgliedsstaaten? Kann die Charta in ihren Garantien über das hinausgehen, was bereits in den nationalen Verfassungen verankert ist? Entstehen dann neue Ansprüche des Bürgers gegenüber seinem Staat oder der Union?

Nach Überzeugung des Potsdamer Europarechtlers Jens Wolfram muss diese Frage klar verneint werden. Quelle des Gemeinschaftsrechts seien schon jetzt alle Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gemeinsam sind – nicht nur die geschriebenen Verträge. „Man braucht die Charta, um ohne Jurastudium zu erkennen, welche Grundrechte jeder EU-Bürger hat.“ Der Grundrechtekonvent habe nichts anderes getan, als die ungeschriebenen Rechte und die Rechte aus den europäischen Verträgen in einem Text zusammenzubringen.

In einem Punkt allerdings sei er über sein Mandat hinausgegangen: Im Kapitel IV, wo es um die sozialen Grundrechte geht. Die sorgen auch im derzeit tagenden Konvent wieder für Konfliktstoff. Vereinfacht gesagt spaltet sich das Gremium in die Anhänger des neoliberalen Binnenmarkts, der möglichst reibungslos funktionieren soll, und diejenigen, die die soziale Komponente der Marktwirtschaft künftig mehr betonen möchten.

Unter der Überschrift „Solidarität“ führt die Grundrechtecharta mehrere subjektive Rechte auf, die – sollte die Charta tatsächlich Verfassungsrang erhalten – mittelfristig auch Arbeitsgerichtsentscheidungen beeinflussen werden. Das Europäische Gewerkschaftsinstitut hat eine Studie in Auftrag gegeben, die diesen Zusammenhang untersucht. „Durch die feierliche Proklamierung der Charta haben die Mitgliedsstaaten sich einstimmig auf die Grundsätze von Gewerkschaftsrechten, Sozial- und Arbeitnehmerpolitik verständigt. Auf dieser Grundlage können die EU-Institutionen Vorschläge machen, wie die Grundsätze politisch umgesetzt werden können“, schreibt Brian Bercusson in der Studie.

Diese Vorschläge müssten allerdings von den Mitgliedsstaaten einstimmig akzeptiert werden, bevor sie EU-weit in Gesetze gegossen werden. Deshalb enthalten die in der Charta formulierten „Grundsätze“ zwar Sprengkraft – aber mit Zeitzünder.

Anders sieht es mit den „subjektiven Rechten“ aus. Erlangt die Charta Verfassungsrang, kann sich jeder EU-Bürger vor jedem Arbeits- oder Sozialgericht in Europa darauf unmittelbar berufen.

„Jede Person hat das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst“, heißt es zum Beispiel in Artikel 28. Sollte ein Mitgliedsstaat diesen Service abschaffen und Arbeitslose an private Agenturen verweisen, deren Dienste sie selbst bezahlen müssen, könnte dagegen jeder Betroffene klagen.

„Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung“, stellt Artikel 29 fest. Und auch Artikel 30 könnte künftig in Arbeitsrechtsprozessen eine Rolle spielen: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.“

Kein Wunder, dass die britische Regierung ihr Veto einlegte, als es vor zwei Jahren darum ging, die Charta in die bestehenden EU-Verträge einzugliedern. Auch andere Regierungen sorgten sich, Brüssel könnte die Charta zum Vorwand nehmen, um in die Sozialpolitik oder die Tarifautonomie einzugreifen. Im Mai 2000 äußerten sich die Europaminister der deutschen Bundesländer kritisch zum Katalog sozialer Rechte. Damit würde die Kompetenz der EU schleichend ausgeweitet. Allenfalls der Grundsatz der Solidarität dürfe in allgemeiner Form in der Präambel erwähnt werden.

Dass die Außenminister Fischer und de Villepin mit ihrem Vorschlag albanische Zustimmungsraten erreicht haben, bedeutet also keine soziale Revolution. Denn wo die Charta am Ende in der Verfassung angesiedelt ist, macht für ihr juristisches Gewicht keinen Unterschied. Auch ein angehängtes Protokoll könnte neues Recht setzen – wenn die juristischen Formulierungen eindeutig sind. Da aber signalisiert die deutsch-französische Initiative Entwarnung. Denn „neue Zuständigkeiten der Union“, also über nationales Recht hinausgehende Ansprüche der Bürger, schließt sie ja ausdrücklich aus.