Held des Zeilensprungs

Da gibt es nix zu meckern: Völlig zu Recht erhält der Lyriker und Peter-Huchel-Konservator Lutz Seiler am Montag den Bremer Literaturpreis für seinen Gedichtband „vierzig kilometer nacht“. Der muss im Stehen und laut gelesen werden

Von Benno Schirrmeister

Gibt es denn gar keinen Platz für die Lektüre? „Lutz Seiler. vierzig kilometer nacht“, ein schmales Bändchen, 95 Seiten bloß. Das wird doch zu packen sein, an einem Abend, sagt man, steckt’s ein, setzt sich in die Straßenbahn. Und versucht zu lesen: „vierzig kilometer nacht“. -fahrt ergänzt das Kleinhirn. Das Großhirn denkt sofort an mühselig absolvierte Fahrstunden. Die Augen schauen aus dem Fenster. Und das Ohr versucht sich zu schließen, aber die quietschende und klappernde Tram fährt scharf durchs Trommelfell.

Weiterblättern, weiterblättern! „vor der zeitrechnung“, komisch der weltliche Ausdruck, warum denn nicht der traditionelle, vor Christi Geburt. Aber so ungewöhnlich ist das auch wieder nicht. nachtbriefkasten, schattenschlag, / der fahrertür, im hauseingang … Momentchen. – der Fahrertür? Zurückschweifen in die erste Zeile: Na also, schon verlesen: Das Komma war falsch. Richtig heißt’s „nachtbriefkasten, schattenschlag / der fahrertür im hauseingang“. Also Schattenschlag der Fahrertür. Der Vers gleitet übers Zeilenende weiter, ganz sanft, ganz leise. Viel leiser als die Straßenbahn.

Laut lesen? Das wäre die angemessenste Lösung, um die Rhythmen und Geräusche zu übertönen. Aber schon halblautes Gemurmel zieht Blicke wie Honig Fliegen. Also das Buch weggepackt: Lutz Seiler kann man hier nicht lesen.

Das kann nicht von allen Trägern des Bremer Literaturpreises behauptet werden: Seit 50 Jahren wird die Trophäe vergeben, unter den Laureaten finden sich so klassische öffentliche-Personen-Nahverkehrs-Autoren wie Erich Fried oder Nicolas Born, die man dann auch zuverlässig auf dem Sitz hat liegen lassen. Seiler ist auch nicht der ganz große Name, noch nicht, müsste es heißen: Die Literaturweltläufigen kennen ihn, weil er in Wilhelmshorst bei Potsdam das Peter-Huchel-Haus betreut. Aber ist noch jung: 1963 in Gera geboren, 40 Jahre also – zuletzt hatten die Bremer meist versucht, sich durch name-dropping selbst auszuzeichnen. Jetzt ist das nicht der Fall. Und das ehrt die Jury.

Wo aber nun die Gedichte lesen? In die Kneipe, ins Café kann man Seiler nicht mitnehmen: Das ist ja mindestens so schlimm wie Straßenbahn.

Also liegender Konsum? Das will nicht recht gelingen: Anfangs lacht man noch übers Zitat: „wir lagen vor madagaskar“, das dann so derb gebrochen weiter geführt wird. Dann aber krabbelt, schon in der Pointe – „thema verfehlt“ – eine halb vergessene kindliche Insektenwelt aus den Worten. Und wer liegt,träumt. Der nimmt es mit den samtenen Übergängen nicht so genau und überhört die Misstöne in den Erinnerungsklängen: Die vergehen einfach, verkommen zu Hintergrundmusik und bloßem Gesäusel.

Also aufstehen und den Assonanzen und Zeilensprüngen nachgegangen! Die Worte abklopfen, sich an den Rätseln und Metaphern genüsslich abarbeiten. Und, bitte, bitte: Laut vortragen, auch sich selbst. Denn das gehört ja zu der Kunst, oder besser: Vielleicht ist genau das die Kunst dieser Poeme, dass sie irgendwo in eine unbekannte Vergangenheit hinein spielen, aber nichts von ihr erzählen. Sie tönt, quergereimt und hintersinnig. Als hätte man sie miterlebt.