Hauptstadt der direkten Demokratie

Nur ein neues Wahlrecht, wie es die Volksinitiative will, kann Hamburgs politische Probleme auch strukturell lösen helfen. Ein Meinungsbeitrag aus Sicht des verfassungspolitischen Sprechers der GAL-Fraktion
von FARID MÜLLER

Die Möglichkeit, die einzelnen Akteure nach Leistung zu beurteilen, gibt es meist nicht

Das Wort „Hamburger Verhältnisse“ macht wieder die Runde. Es ist mittlerweile ein Begriff für politische Instabilität. Und das nicht erst seit Schill. Schon seit den 80er Jahren häufen sich in Hamburg die Wahlkapriolen und sorgen dafür, dass wir im Februar bereits unser achtzehntes Landesparlament wählen müssen.

Wir Hamburger haben nur scheinbar eine besondere Beziehung zu Protestparteien und unklaren Mehrheitsverhältnissen. Die Ursache für Statt- und Schill-Partei liegt tiefer. Populismus und Protest haben strukturelle Ursachen in einem veralteten Wahlrecht.

Nirgendwo sonst haben die Wählenden so wenig zu melden wie hier. Der Satz: „Wählen kann man – aber es verändert nichts“ ist zwar falsch, aber populär. Dahinter allerdings verbirgt sich höchst realer Frust.

Nirgendwo in Deutschland ist die Kluft zwischen Arm und Reich so sichtbar wie in Hamburg. Wer einmal Billstedt, Rothenburgsort und Veddel und anschließend Blankenese, die Walddörfer und Alsterviertel an einem Tag besucht hat, weiß das. Und wer in den erstgenannten Stadtteilen lebt, weiß dies erst recht. Aus Arbeitslosigkeit, ungelösten Integrationsproblemen und bestenfalls lustlosem Städtebau wächst das Gefühl, vernachlässigt zu werden und in politischen Entscheidungen schlicht nicht vorzukommen. Darüber helfen dann auch überdimensionierte ABM-Programme nicht hinweg. Und lebenswerte Viertel wie die Schanze und St. Georg entwickeln sich nicht wegen, sondern trotz der politischen Entscheidungsträger.

Auf dieser sozialen Brennstelle kochen CDU und SPD gerne parteipolitische Süppchen. Ein gutes Beispiel war und ist der Umgang mit der Inneren Sicherheit. Natürlich war die ansteigende Kriminalität Anfang 2001 ein politisches Problem. Sie wurde es erst recht, als die SPD sie schlicht verleugnete und die CDU billige Scheinlösungen anbot. Das Ergebnis war der Rechtspopulist Ronald Schill, der das Gefühl der Wählenden, denen da oben hilflos ausgeliefert zu sein, geschickt ausgenutzt hat.

Würde es jetzt bereits ein nach Personen differenziertes Wahlrecht geben, wäre für Leute wie Schill kein Platz mehr. Die Möglichkeit zur Auswahl und zur Mitsprache sorgt nämlich für mehr Beteiligung. Bisher können die Wählenden nur eine mehr oder weniger anonyme Liste ankreuzen. Die Möglichkeit, die einzelnen Akteure nach Leistung zu beurteilen, gibt es meist nicht. Genau dies wollen aber die Menschen. Den Beweis dafür liefert der Party-Partei-Terminator selbst. Gemessen an den von ihm geweckten Erwartungen fällt seine Leistungsbilanz verheerend aus. Ronald B. Schills politische Tage sind deshalb gezählt.

Ein weiterer Hinweis auf das Bedürfnis der Menschen nach mehr Mitsprache sind Bürger- und Volksbegehren. Hamburg hat sich zur Hauptstadt der direkten Demokratie gemausert. Das ärgert natürlich den Rechts-Senat. Er und seine Vertreter in den Bezirken verstehen direkte Demokratie immer als ideologisch gegen sich gerichtet. Deshalb war keine Verrenkung zu verbogen, kein Trick zu abgefeimt, wenn es darum ging, ein Bürger- oder Volksbegehren zu hintertreiben. Bezirksversammlungen stimmten für Bürgerbegehren, obwohl sie mehrheitlich dagegen waren. Auf diese Weise entdeckte die Bezirksversammlung Altona ihr Herz für die Stresemannstraße oder die Bezirksversammlung Wandsbek ihre Vorliebe für Naturschutz in den Walddörfern.

Auch der Senat versuchte beim Verkauf von Hamburgs Krankenhäusern vollendete Tatsachen zu schaffen. Diese einmalige Attacke gegen einen laufenden Volksentscheid in Deutschland wurde nur durch den Verlust der Mehrheit des Rechtssenats unterbunden.

Dies mehrt natürlich die Unzufriedenheit. Mit einem Wahlrecht, in dem sich Abgeordnete für derartige Entscheidungen verantworten müssen, wäre dies kaum möglich. Das geltende Wahlrecht erzeugt ebenso wie das von SPD, CDU, Schill-Parteien und FDP favorisierte Bundestagswahlmodell Loyalitäten gegenüber einer Partei, nicht gegenüber den Wählerinnen und Wählern. In den oben genannten Fällen wartete man folgerichtig vergeblich auf Protest der Abgeordneten. Nur eine höhere Bindung an den Willen der Bevölkerung mindert Frust und hilft so, Schill und die seinen zu vermeiden.

Glücklicherweise kommt auf direkt-demokratischem Wege der Versuch, Hamburgs Wahlrecht aus der Steinzeit in die Zukunft zu befördern. Bisher haben die Wählenden nur eine Stimme für eine von einer Partei vorgegebene Liste. Davon stehen nur die allerersten Namen auf dem Wahlzettel. Nach dem Willen des Volksbegehrens für ein faireres Wahlrecht sollen die Hamburgerinnen und Hamburger mit fünf Stimmen in die Wahlvorschläge der Parteien eingreifen können. Sie können dann Kandidatinnen und Kandidaten unterstützen, die ihnen positiv aufgefallen sind. Dazu werden mehrere Stimmen an eine Kandidatin vergeben. Zusätzlich gibt es keinen Parteienzwang mehr. Stimmen können auch an verschiedene Parteien vergeben werden. Weitere fünf Stimmen gibt es für die fünf Wahlkreisabgeordneten. Auch hier gelten die Grundsätze des Kumulierens und Panaschierens. Damit wäre es vorbei mit Erbhöfen der Volksparteien in den Wahlkreisen. Die Scheinwahlkämpfe in den Hochburgen täuschen eine Auswahl vor, die es tatsächlich nicht gibt. Mit Wahlkreisen, für die mehrere Abgeordnete zuständig sind, würde ein Wettbewerb zwischen den direkt gewählten Abgeordneten im Parlament entstehen. Auch davon profitiert der Wähler in Form von mehr Beteiligung.

Denn unsere Abgeordneten sind zu selten vor Ort. Und das, obwohl die Voraussetzungen dafür in einem Stadtstaat eigentlich sehr gut sind. Die Bürgerarbeit steht allzu oft am Ende der Prioritätenliste.

Alle bisherigen Versuche, diese Kluft zwischen Abgeordneten und Volk zu verringern, sind an SPD und CDU gescheitert. Und gegen das äußerst erfolgreiche Volksbegehren für ein faires Wahlrecht kennen CDU und SPD nur ein Ziel: Dieses moderne Wahlrecht zu verhindern. Deshalb soll noch vor den Bürgerschaftswahlen ein Gegenentwurf dazu verabschiedet werden.

Um den Volksentscheid zu verhindern, wollen nun auch CDU und SPD Wahlkreise nach dem Mehrheitswahlrecht einrichten. Das führt in Hamburg nach allen Berechnungen des Landeswahlleiters zu einem Parlament, in dem fast nur direkt gewählte SPD-Abgeordnete sitzen und die CDU ihre Abgeordneten überwiegend durch Listenwahl bestimmt. Eine Auswahl vor Ort wäre nicht mehr gegeben. Eine deutlich verbesserte Mitsprache durch die Wählenden ist nicht vorgesehen.

Das neue Wahlrecht wird sich gegen dies Rückzugsgefecht von SPD und CDU zu behaupten haben. Im Juni kommenden Jahres wird die Frage, wie viel Demokratie die Hamburgerinnen und Hamburger sich genehmigen, in einem Volksentscheid beantwortet werden – eine Chance, es künftig in Hamburg nicht nur Populisten schwer zu machen.

Fotohinweis: Farid Müller (41) ist Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft. Er ist zudem der verfassungspolitische Sprecher der GAL-Fraktion.