CHRONIKER-REGELUNGEN ZEIGEN DIE SCHWÄCHE DES GESUNDHEITSSYSTEMS
: Ein chronisches Leiden

Deutschland macht eine Reform und keiner weiß, wen sie betrifft – diese Groteske hat seit gestern ein Ende. Nach Wochen des Wirrwarrs bestimmten Ärzte- und Kassenvertreter, wer als schwer chronisch Kranker vor unzumutbaren Finanzbelastungen zu bewahren sei. Sie fanden eine Lösung, mit der viele gut leben können: Die Kassen sparen Geld, weil nur noch wenige Patienten als chronisch krank kategorisiert werden. Andererseits ist die Definition flexibel genug, um Einzelfälle zu erfassen: Im Zweifel entscheidet der Arzt, ob er ein Dauerleiden als lebensbedrohlich einstuft. Das Szenario eines Antisozialstaats, der jeden chronisch Kranken wegdefiniert, die Schwächsten ins Elend abgleiten lässt – es blieb Fiktion.

Die Neuregelung behebt sogar Missstände: Ob eine Krankheit als chronisch galt, entschied bislang allein der Arzt – ohne dies wie künftig an Kriterien wie „lebensbedrohlich“ oder „lebensverkürzend“ messen zu müssen. In Nordrhein-Westfalen etwa gelang es so der Hälfte aller Kranken, jegliche Zuzahlung zu umgehen. Die neue Definition, verantwortungsvoll angewandt, könnte den Nutznießer vom wirklich Bedürftigen trennen. Sowohl die Gesundheitsministerin als auch der Ausschuss aus Ärzte- und Kassenvertretern werden mit ihrer Regelung also zufrieden sein. Ulla Schmidt kann sich mit einer Regelung brüsten, die hart, aber fair ist. Und der Ausschuss wird künftig Kritik zurückweisen, die ihn als Bremser der Reform beschimpft.

Doch das Verhandlungsprozedere offenbart auch die Schwächen im Gesundheitssystem. Demokratisch legitimierte Volksvertreter beschließen ein Gesetz, das ein unnützes Papier bleibt, solange nicht die Ärzte- und Kassenvertreter seine Ausführung festlegen. Der Ausschuss ist zwar fachlich kompetent, doch entscheidungsschwach und gelähmt durch die Interessenkonflikte zwischen Ärzten und Kassen. Dass dies gestern anders war, verdanken die Patienten vor allem dem öffentlichen Druck. Ein Ausschuss aber, der nur funktioniert, wenn die Gesundheitsministerin ihm mit der Auflösung droht, ist nicht zukunftsfähig. Hier liegt das schwere chronische Leiden des deutschen Gesundheitssystems. COSIMA SCHMITT