Den Irak neu erfinden

Um die verfeindeten Bevölkerungsgruppen im Irak zu befrieden, brauchen sie einen ehrlichen Makler. Die amerikanischen Besatzer können diese Aufgabe nicht erfüllen

Eine gewählte Regierung hätte im Streit mit den Besatzern um echte Souveränität des Irak mehr Rückgrat

Die Ausgangslage ist denkbar schlecht: Der Irak ist ein Land mit verfeindeten Ethnien und religiösen Gruppen, die nur mit Mühe zusammengehalten werden. Es besitzt keine legitime Regierung, dafür aber eine Besatzungsmacht, die keinerlei Konzept zu besitzen scheint. Die amerikanischen Besatzer sind in einer unappetitlichen Doppelrolle: Sie sollen die Ordnung wahren, bewirken durch ihre Anwesenheit aber starke Spannungen und große Unordnung. Ein Widerspruch, der sich auch auf die dortigen Meinungsumfragen niederschlägt: Der Ärger über die Amerikaner wächst. 66 Prozent aller Iraker betrachten sie heute nicht als Befreier, sondern als Besatzer – im Gegensatz zu 46 Prozent vor einem halben Jahr. Aber nur 17 Prozent fordern den sofortigen Abzug der US-Truppen. Der Rest hat Angst, dass das Land sich nach dem Abzug in einen blutigen internen Konflikt verstricken könnte. Besatzung oder Bürgerkrieg scheinen die wenig versprechenden B-Optionen für Iraks Zukunft.

Nur ein Drittel der Menschen in Mesopotamien sehen sich in erster Linie als Iraker. Der Rest bevorzugt in den Umfragen eine schiitische, sunnitische, kurdische oder an Stämmen orientierte Identität. Das muss bei der Suche nach einer selbstbestimmten, friedlichen Zukunft des Irak berücksichtigt werden. Im Moment versucht jede Gruppe, in der Debatte über die Machtübergabe für sich das meiste herauszuholen. Die Bevölkerungsmehrheit der Schiiten fordert, die nächste Regierung in freien Wahlen zu bestimmen, wohl wissend, dass sie erstmals in der irakischen Geschichte dann das größte Stück vom Kuchen abbekommt. Die Forderung nach angemessener Repräsentation ist verständlich, selbst wenn es nicht nach westlichen Geschmack ist, dass die religiösen Gruppen dabei stark abschneiden würden. Um ihre demografische Macht zu untermalen, haben die geistigen Oberhäupter der Schiiten in den letzten Tagen immer wieder ihre Anhänger zu friedlichen, aber massiven Demonstrationen mobilisiert. Die Amerikaner bestehen bisher dennoch darauf, die Mitglieder der neuen irakischen Regierung bis zum 30. Juni in einem System von Provinzversammlungen bestimmen zu lassen. Von US-Besatzungsverwalter Paul Bremer abgesegnete Gremien dürfen dabei nicht gerade demokratisch die neue irakische Regierung zusammenstellen.

Für die kurdische Minderheit sichert dieses System eine angemessene Vertretung. Auf ihrer Tagesordnung ganz oben stehen nicht Wahlen, sondern die Forderung nach einer Föderation. Für die Kurden ist das die wichtigste Garantie, dass sich die Geschichte ihrer blutigen Unterdrückung nicht wiederholen kann. Die genauen Grenzen dieses Konstruktes müssen allerdings noch ausgehandelt werden. Der Streit, ob die kurdischen Gebiete geografisch oder ethnisch zu definieren sind, ist bereits entbrannt. Bleibt noch die Minderheit der Sunniten, der einstigen Herren des Landes. Mit dem Sturz Saddam Husseins sind fünfhundert Jahre ihrer Minderheitenherrschaft zu Ende gegangen: Das dadurch entstandene sunnitische Trauma lässt sich nicht in einigen wenigen Monaten überwinden.

Sowohl die Schiiten als auch die Kurden haben sich in den letzten Jahren in Opposition zu Saddam in politischen Gruppen und Parteien organisiert, die ihnen heute helfen, ihre Forderungen auszudrücken. Bei den Sunniten herrscht nach dem Sturz des Regimes dagegen die große politische Leere. Einige haben sich in ihrem „sunnitischen Dreieck“ im so genannten Widerstand organisiert, der zwar den amerikanischen Besatzern das Leben schwer macht, ansonsten aber über keinerlei politisches Konzept verfügt. Wirtschaftlich sind die Sunniten ohne den ölreichen kurdischen Norden und den schiitischen Süden vollkommen handlungsunfähig. Derweil könnten sie einiges politisches Gewicht in die Waagschale werfen, würden sie sich nur politisch organisieren. Sie stellen die technokratische Elite des Landes, die auch in neuen staatlichen Institutionen nicht ignoriert werden kann. International müssen die Forderungen und Befindlichkeiten der unterschiedlichen Gruppen schon alleine deswegen ernst genommen werden, weil bei deren Nichtbefriedigung das Land Gefahr läuft, auseinander zu brechen. Eine Entwicklung, bei der alle irakischen Nachbarn mit in den Strudel der Destabilisierung gerissen würden.

Wie aber könnten Sunniten, Schiiten und Kurden befriedet werden? Ein Vorschlag wäre, die unterschiedlichen Forderungen nach freien Wahlen, einer Föderation und die sunnitische Angst, ausgeschlossen zu werden, zusammenzuschnüren. Die schiitische Forderung nach Wahlen zum frühstmöglichen Zeitpunkt gäbe der nächsten irakischen Regierung die Legitimität, die der von den US-Besatzungsverwaltern bestimmte heutige Regierungsrat vermissen lässt. Eine solche gewählte Regierung hätte im Streit mit den Besatzern um eine echte Souveränität des Landes wesentlich mehr Rückgrat und könnte deren tatsächlichen Abzug politisch erstreiten – immerhin ist im Land eine US-Botschaft mit 3.000 Mitarbeitern und der US-Armee als Gast geplant. Damit könnte sich eine Regierung auch als Herzstück für einen neuen irakischen Nationalismus entwickeln, jenseits der bestehenden ethnischen und religiösen Linien.

Das wichtigste Argument gegen einen Wahltermin am 30. Juni ist, dass er zu kurzfristig angesetzt sei. Das Datum, das zwischen den Besatzern und dem von ihnen bestimmten Regierungsrat für den Beginn der angeblichen Souveränität des Irak vereinbart wurde, ist hauptsächlich von den US-Präsidentschaftswahlen im November beeinflusst. George W. Bush möchte den Wählern zu Hause demonstrieren, dass das irakische Abenteuer zumindest in seinem jetzigen großen Stil irgendwann ein Ende haben wird.

Nur ein Drittel der Menschen in Mesopotamien sehen sich in erster Linie als Iraker

Doch ist es wesentlich wichtiger, dass die neue Souveränität auf einer soliden Basis aufgebaut wird. UN-Generalsekretär Kofi Anan hat diese Woche erklärt, er erwäge, ein Team in den Irak zu schicken, um die Frage der Wahlen zu studieren. Es sollte aber nicht feststellen, ob Wahlen bis zum 30. Juni möglich sind, sondern, wie viel Zeit benötigt wird, um diese zu organisieren. Auch als Garant für eine irakisch-kurdische Föderation und für die Integration der Sunniten in einen neuen Irak käme der UNO eine wichtige Rolle zu. Am Ende könnte ein mehrheitlich schiitischer und weniger zentralistisch als jetzt organisierter Staat mit geringem Einfluss auf die kurdischen Gebiete stehen, in dem die Sunniten nicht ausgeschlossen sind. Doch damit alle Gruppen das akzeptieren, braucht es einen ehrlichen Makler, und den können mit Sicherheit nicht die Besatzer selber spielen. Sie sind ein großer Teil des Problems – und sicherlich nicht die Lösung. Und selbst die Vereinten Nationen müssen in den Augen der Iraker vor allem mit Hilfe der Europäer erst einmal beweisen, dass sie sich bei der Überwachung und Vermittlung des politischen Prozesses im Irak nicht dafür hergeben, als billige Schminke für die US-Besatzung zu dienen.

KARIM EL-GAWHARY