Unkontrollierbar werden

Wie den Techniken der Kontrolle und Selbstkontrolle entgehen? Politische, ökonomische, kulturelle und künstlerische Möglichkeiten lotet das internationale Symposium „Kontrolle und Virtualität“ bis Samstag in der HFBK aus

Als der französische Philosoph Gilles Deleuze Anfang der 90er sein skizzenhaftes wie einflussreiches „Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften“ veröffentlichte, hatte die US-„National Science Foundation“ gerade beschlossen, das Internet für kommerzielle Zwecke zu nutzen und es über die Unis hinaus öffentlich zugänglich zu machen. Man konnte sich in London noch bewegen, ohne von Kameras aufgezeichnet zu werden; Vorratsdatenspeicherung, Selbstunternehmertum, Krieg gegen Terror, Myspace, Online-Durchsuchungen oder Google: merkwürdige Worte ohne Sinn.

Deleuzes damals als Antwort auf Michel Foucaults prominente und viel diskutierte Analyse der Disziplinargesellschaften formulierte Vermutung: Im Gegensatz zu jenen, die darauf aus gewesen seien, Individuen zu fabrizieren, deren Fertigkeiten und Verhaltensweisen unauslöschlich in eine Seele eingeschrieben wurden – in der Familie, der Schule, der Fabrik –, sei die Kontrolle des Verhaltens längst kontinuierlich, allen Orten immanent, an denen Abweichung auftauchen könne und allen Praktiken und Aktivitäten der alltäglichen Existenz integral. Statt gleichsam in eine feste Form gegossen zu werden, werde das Verhalten konstant und endlos moduliert: flexibel sein, kontuierlich trainieren, ein Leben lang lernen, sich permanent verbessern etc. Heute, knapp zwanzig Jahre später, klingt Deleuzes These unmittelbar einleuchtend: Die Gesellschaften sind Systeme, die „durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation funktionieren“.

Den politischen, ökonomischen, kulturellen und technisch-medialen Aspekten dieser Entwicklung geht seit Anfang der Woche das internationale Symposion „Virtualität und Kontrolle“ in der HFBK nach, wissenschaftlich und künstlerisch. Den Großteil des Programms nimmt eine ganze Reihe von Vorträgen ein, die sich verschiedenen Aspekten des Themas annehmen: der Zerstreuung der Kontrolle, der Rolle der Medien, der Selbstkontrolle der Arbeit, der Macht der Affekte und nicht zuletzt der Fluchtlinien, dem „Virtuellen“: Lassen sich Techniken und Strategeme denken und fabrizieren, die den allgegenwärtigen Techniken der Kontrolle und Selbstkontrolle entgehen?

Auf die Suche nach diesen unkalkulierbaren Rissen, Unterbrechungen oder Öffnungen hat sich Anfang der Woche bereits eine szenische Lesung gemacht. Heute Abend veranstaltet die Gruppe Ligna ihr performatives Hörspiel „Das Labor für unkontrollierbare Situationen“ zum Thema Überwachung in der Hamburger Innenstadt. Und auch beim Konzert der österreichischen Musikerin und Medienkritikerin Gustav heute Abend lernt man: Es geht immer auch anders. ROBERT MATTHIES

bis Sa, 8. 11., Hochschule für bildende Künste, Lerchenfeld 2; Infos und Programm: http://querdurch.hfbk.net