Bühne frei für den Fußball-Wozzeck

Tumulte, Tragödien, Traditionen, ein bizarres Sportgerichtsurteil und auf dem Tivoli eine neue Art gesangsloser Oper: Das Jahr 2004 beginnt mit dem ersten Geisterspiel in der Geschichte des deutschen Profifußballs

AACHEN taz ■ Vor einer Woche hatte am Aachener Stadttheater Alban Bergs schwer verdauliche Oper „Wozzeck“ Premiere: 90 disharmonische Minuten um die Eskalation von Gewalt und das Leid geschundener Kreaturen, die gleichzeitig Täter und Opfer sind. Auf dem Aachener Tivoli folgt heute ein nicht minder groteskes Schauspiel. Gegeben wird das erste „Geisterspiel“ in der Geschichte des deutschen Profifußballs: ohne Publikum, ohne Gesang, aber mit reichlich bizarrem Drumherum. Ein Wozzeck-Drama für einen Ball mit viel Stille.

Das Zweitliga-Topspiel Alemannia gegen den 1. FC Nürnberg endete im November 1:0. Weil aber Gästetrainer Wolfgang Wolf durch einen Bierbecher am Kopf getroffen und verletzt wurde, wollte das DFB-Sportgericht „ein Exempel statuieren“: Alles noch mal. Vor leeren Rängen. Eine Regelung, die beide Teams nicht eben glücklich finden (Aachen fühlt sich um die Punkte betrogen, Nürnberg hätte auf neutralem Platz spielen wollen), sich jedoch fügen müssen.

Die Aufführung wird eine komplizierte Sache. Seitenlang hat die Deutsche Fußball Liga (DFL) Regularien aufgelistet und in Dutzenden Treffen und Telefonaten neue Formalitäten angeordnet. Abgezählte 40 Personen pro Verein sind zugelassen. Die Gruppe umfasst jeweils Spieler, Trainerstab, Betreuer, Offizielle. 450 Ordner werden „eine Menschenkette um das Stadion bilden“, kündigt Alemannias Geschäftsführer Bernd Maas an. Seit Sonntag Abend ist der Tivoli „komplett abgeriegelt“ und wird akribisch durchsucht. Nicht ins Stadion dürfen VIPs, Spielerfrauen, Spielbeobachter der nächsten Gegner und Ehrengäste. Aber einen Stadionsprecher wird es geben dürfen. Der sagt, er freue sich schon auf seine Durchsage: „Alemannia bedankt sich heute bei - null Zuschauern!“

Grabesstimmung ist allerdings nicht verordnet, auch keine neutrale Kleidung. “Wer im Stadion ist, darf genauso jubeln wie sonst auch. Auch mit Schal. Jedenfalls“, fügt Maas hinzu, „haben wir bislang noch nichts Gegenteiliges gehört.“ Die Parkplätze werden abgeriegelt. Eine Würstchenbude aber darf besetzt sein. Und sogar zwei Toiletten. Mit Personal? „Ja, das ist erlaubt, und die zählen nicht zu den 40.“ Auch Platzwart, Hausmeister und ein Elektriker, Feuerwehr und die Malteser gehen extra. Jeder bis zum Kabelträger des Fernsehens muss der DFL namentlich gemeldet sein.

Dazu kommt der Spezialfall Egidius Braun, 78. Der DFB-Ehrenpräsident ist Aachener und kommt mit selbst erteilter Ausnahmeerlaubnis. Braun wird auf einem Bänkchen neben dem Spielertunnel eine Art Ehren-Wozzeck geben.

Hunderte Journalisten haben eine Akkreditierung beantragt mit „teilweise eigenartigen Presseausweisen“, wie Alemannia-Sprecher Thomas Mörs feststellte. Jeder einzelne wurde mit der DFL abgesprochen. Alemannia ist zudem gehalten, die Medien-Öffentlichkeit zu verstecken. Das DFB-Urteil hatte „Ausschluss der Öffentlichkeit“ angeordnet. Gleichwohl wurde der Termin dann dem Deutschen Sportfernsehen genau ins Sendeschema platziert: Montag um 20 Uhr 15. Darin sieht man beim DFB „keinen Widerspruch.“

“Wir haben mit den Fanclubs gesprochen“ , sagt Maas, „die haben wohl verstanden, um was es für den Verein geht.“ Eine Tragödie von wozzeckeskem Ausmaß wäre es, wenn das einem Nürnberger Provokateur gelänge.

Eine Theaterkritikerin des Wozzeck hatte eine „tiefe Traurigkeit der Partitur“ erkannt. Der Fußball kontert nun mit einer Partie von tiefer Traurigkeit. Übrigens werden die Aufführung zwei traditionsreiche Klubs bestreiten, die für die tragischsten Dramen im deutschen Nachkriegsfußball stehen: Der 1. FC Nürnberg stieg 1969 als amtierender Deutscher Meister aus der Bundesliga ab, Alemannia Aachen im Jahr danach als Vizemeister. Und damit nicht genug: Wer die gespenstische Nummer heute gewinnt, darf sich als neuer Tabellenführer spätester Herbstmeister aller Zeiten nennen. BERND MÜLLENDER