Stöpsel der Stille

Im Widerstand gegen Lärm und Krach. Ein Kapitel höherer Spekulationsmathematik

Ich würde für den Rest meines gesamten Lebens 30.000 Ohrstöpsel brauchen

Das Objekt ist recht klein. Genauer gesagt, misst es 1,95 Zentimeter in der Länge und 1,3 im Durchmesser. Es handelt sich um einen Zylinder aus feinporigem, zitronengelbem Schaumstoff, den man mit zwei Fingern zu einer winzigen Rolle zusammendrehen und ins Ohr stecken kann. Das zu tun hat einen Vorteil: Sobald der Schaumstoff knisternd den Gehörgang ausfüllt, weicht das Lärmen der Nachbarn zurück, verebbt ihr Bohren, Hämmern, Plärren, Husten und auch sonst so mancherlei. Wie hatte doch Theodor W. Adorno bereits 1940, als es diese Art Stopfen noch nicht – sondern nur eine rotbraune Variante von Ohropax gab –, in den „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ trefflich bemerkt: „So wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen.“ Diese Erkenntnis habe ich anhand meines Nachbarn im dritten Stock auch schon lange gewonnen.

Welche Segnung der Gehörschutz dem Lärmempfindlichen bedeutet, können Außenstehende schwer ermessen; Lärmende schon gar nicht. Jedem Lauten sei es zugeflüstert, vor allem meinem Nachbarn: Ohne diese kleinen Helfer gäbe es mehr Unfrieden auf der Welt. Sie sichern Schlaf, Entspannung und konzentrierte Arbeit. Ohrenstopfen sind ein wichtiger sozialer Puffer: Sie verhindern Kriege!

Schauerlich war deshalb die Vorstellung, die Vorräte könnten aufgebraucht oder die Herstellerfirma gar pleite sein! Ich ließ mir von der Apothekerin meines Vertrauens die Telefonnummer der Ohrenstöpselfirma geben und wollte es genau wissen.

Meine Frage nach dem Preis von 15.000 Garnituren der segensreichen Gebilde zeitigte kurze Stille. Dann meldete sich die Stimme eines Herrn am anderen Ende der Telefonleitung mit ruhigen, sachlichen Rückfragen. Bereitwillig referierte ich, dass ich laut Sterbestatistik weitere 25 bis 35 Jahre Ohrenstöpsel benötigen werde, was in meinem Fall bei einem Wochenbedarf von zwei mal sieben Stück und einer Sicherheitsreserve von 2.225 Paar für den Fall eines verlängerten Alterns einen Lebensgesamtrestbedarf von 30.000 Stück bedeutete …

Der Telefonstöpselberater klang keineswegs verwundert, als er darauf reagierte. Er bat mich höflich, auch folgende Punkte geflissentlichst zu berücksichtigen: Man habe erstens festgestellt, dass sich bei längerer ungeschützter Lagerung der Stopfen eine Materialermüdung zeige. Mein Reststopfenkontingent würde also wahrscheinlich schon nach ein, zwei Jahren vollkommen unbrauchbar sein.

Die Wissenschaft könnte, führte er zweitens aus, Materialien entdecken, die meine gelagerten, müden Stöpsel bald zu technologischen Oldtimern machten. In Forschung und Entwicklung scheine sich Großes vorzubereiten. Der Preis der geforderten Stopfenmenge, gab er drittens zu bedenken, könnte sich bei Schwankungen der Währungen oder Lohn-, Rohstoff- und Energiekosten jäh zu meinen Ungunsten verändern und ich meinen Großeinkauf irgendwann bereuen.

Viertens schließlich beschwor er mich, die Dimensionen des Geschäftes nur recht genau ins Auge zu fassen: 3.000 Zehnerpacks à 93,5 Kubikzentimeter nähmen immerhin 280.500 Kubikzentimeter an Raum ein, rund einen Drittelkubikmeter! Bei einem Packungsgewicht von acht Gramm würden die Schächtelchen ein Gesamtgewicht von 24 Kilo auf die Waage bringen, selbst nach 17,5 Jahren, der Halbwertszeit meiner Stöpsel, noch zwölf!

Der sinkende Wirkungsgrad würde, folgerte ich innerlich, durch die fortschreitende Ertaubung möglicherweise nur unvollständig kompensiert, so dass eine wohltemperierte Lagerung wünschenswert wäre. Rasch entwarf ich im Geiste einen mehr als hundehüttengroßen Spezialcontainer mit Hightechklimaanlage und überschlug die in 30 Jahren wohl anfallenden Stromkosten. Sie waren exorbitant hoch. Gravierend missfiel mir, dass die Maschine nach 17,5 Jahren immer unrentabler arbeiten und am Ende aller Zeiten mit voller Leistung nur mehr eine letzte Fünferpackung Ohrenstöpsel benutzbar hielte.

So entschied ich mich seufzend, auch im Hinblick auf die von zweitens bis viertens vorgebrachten Einwände, den Plan meines Hamsterkaufs fallen zu lassen.

Der Berater sicherte mir mit angenehm schallgedämpfter Stimme die Zusendung des aktuellen Geschäftsberichts seiner Firma zu, nicht ohne nachdrücklich die beste Ordnung zu betonen, in der sich alles befände. Der von mir favorisierte Stöpseltyp sei förmlich das Rückgrat des Unternehmens, ein Umsatzeinbruch beim anhaltenden Trend zum Lauterwerden somit völlig ausgeschlossen.

Ich dachte über eine Beteiligung in Form von Wertpapieren nach und beschloss, über den Chefeinkäufer einer großen Klinik, der mir einen kleinen Gefallen schuldig war, wenigstens den Bedarf des nächsten Jahres rabattgünstig zu erwerben.

Zuletzt war da wieder nur noch das beruhigende Knistern in meinen Ohren. TOM WOLF