Ein Mann für alle Fälle

Andre Agassi gewinnt bei den Australian Open seine 250. Grand-Slam-Partie und unterstreicht, dass er auch in diesem Jahr für den Titel gut ist. Für Venus Williams gilt das nicht. Sie ist nach ihrer Niederlage gegen Lisa Raymond draußen

MELBOURNE taz ■ Das Staunen über diesen Mann lässt einfach nicht nach. Sonntag gewann Andre Agassi sein 250. Spiel bei einem Grand-Slam-Turnier, das 25. in Folge im Melbourne Park, und wenn die Rod Laver Arena nicht längst einen Namenspatron hätte, dann wäre er auch dafür erste Wahl. Agassi gewinnt, wenn die Sonne vom tiefblauen Himmel brennt, wenn sich die Wolken ballen, und er gewinnt, wenn sich, wie gerade, eine kältere Strömung nähert, die ihm nicht gut gefällt. Ein Mann für jedes Wetter, für jede Jahreszeit – und für fast jede grundlegende Erkenntnis. Woran er dachte, als er im ersten Durchgang gegen Paradorn Srichaphan aus Thailand fünf Satzbälle abwehren musste? „Schau den Ball an und beweg dich – das ist das Erste, was du lernst, und das Letzte.“

Mit dem Erfolg (7:6, 6:3, 6:4) gegen jenen Mann, der ihn vor anderthalb Jahren in Wimbledon besiegt hatte, qualifizierte sich Agassi als Erster fürs Viertelfinale. Es folgten dessen nächster Gegner, Sébastien Grosjean aus Frankreich, Andy Roddick und Marat Safin. Roddick, die Nummer eins der Weltrangliste und des Turniers, ist der Einzige, der dieser Tage ähnlich mühelos gewinnt wie Agassi. Auch beim klaren Sieg gegen Sjeng Schalken/Niederlande (6:2, 6:1, 6:0) gab er keinen Satz ab.

Es sieht ganz danach aus, als habe er sich bestens von der anstrengenden Saison 2003 erholt, die ihm bei den US Open in New York den ersten Grand-Slam-Titel seines jungen Lebens beschert hatte und zwei Monate später beim Masters Cup in Houston zum ersten Mal auch die Nummer eins. Aber wenn es darum geht, wer der heißeste Anwärter auf den Titel bei den Australian Open 2004 ist, gibt es für Roddick keinen Zweifel: „Das ist inzwischen so, wie es lange Zeit mit Pete (Sampras) in Wimbledon war: Es ist so lange Andres Titel, bis jemand kommt und ihn ihm wegschnappt.“

Das Thermometer fällt, aber die gefühlte Temperatur im Melbourne Park steigt. Hitziger Abschluss der ersten Woche war am Samstag die vier Stunden und 53 Minuten dauernde Partie zwischen dem Argentinier Guillermo Canas und dem Briten Tim Henman, von der selbst Agassi am Tag danach noch schwärmte und das exakte Ergebnis im Kopf hatte: 6:7, 5:7, 7:6, 7:5, 9:7. Es war der zweite Fünfsatzsieg des Argentiniers in Folge, was umso erstaunlicher ist, als er wegen einer Bänderverletzung im rechten Handgelenk im vergangenen Jahr acht Monate überhaupt nicht Tennis gespielt hatte und nun in Melbourne zum ersten Mal seit einem Jahr wieder bei einem großen Turnier mit von der Partie ist.

Was Tim Henman betrifft, den tapferen Angreifer und vorletzten Helden des Aufschlag-Volley-Spiels, so konnte der zwar hinterher der Statistik entnehmen, 198 Mal in fünf Sätzen ans Netz gestürmt zu sein und 100 so genannte winners gespielt zu haben, aber letztlich reichte es wieder nur fast zum Sieg. 209:211 Punkte nach fast fünf Stunden – die englischen Zuschauer rollten ihre Fahnen ein und verabschiedeten sich zum Trosttrunk ins Nachtleben der Stadt.

Die bisher größte Überraschung des Turniers war freilich die Niederlage von Venus Williams am Samstag im Spiel der dritten Runde gegen Lisa Raymond (4:6, 6:7). Beim ersten großen Turnier nach sechs Monaten Pause war Williams noch nicht wie gewohnt in Form, aber ohne Lisa Raymonds mutiges, konsequentes Angriffstennis hätte das sicher nicht gereicht. Vor dem Spiel hatte Raymond eine SMS ihrer Doppelpartnerin Martina Navratilova erhalten mit der Mut machenden Aufforderung: „Sei einfach tapfer und glaub an dich.“

Ja, und dann hätte das deutsche Tennis seinen letzten Mann in Melbourne fast noch durch den Tiefflug einer Möwe verloren. Mit einer instinktiven Reaktion wich Karsten Braasch beim Aufschlag im Doppel mit dem Armenier Sargis Sargsian gegen Etlis/Rodriguez (Argentinien) dem unverschämten Vogel aus. Das Ende der Geschichte: Kopf gerettet, Spiel aber dennoch verloren.

Es ist schon wirklich ein ganz besonderes Turnier.

DORIS HENKEL