Das Flirren der Wüste, diese Sehnsucht

Mut zu Zigarren und großen Gefühlen: Norrin Radd und sein Label Calico haben erfolgreich die verflixten sieben Jahre überwunden, als Rockgitarren bloß noch verstaubten. Der Sound, der so klassisch klingt wie aus Albuquerque oder Tucson, kommt aus einem Dachgeschoss aus Charlottenburg

von THOMAS WINKLER

An der Wand stehen sie, die Schätze. Nicht säuberlich aufgereiht, eher wie auffällig zufällig arrangiert: Die Fender Telecaster, die Gibson Montana. Eine jede dieser Gitarren könnte berichten von historischen Momenten der Rockgeschichte, die eine baugleiche Kollegin einmal durchlitten hat. Die in unserem Falle interessanteste Geschichte aber erzählt die Rickenbacker 360/12 aus dem Jahre 1967. Dies ist das gleiche Instrument, auf dessen 12 Saiten Roger McGuinn dereinst den Sound der Byrds definierte und mithin zahllose ihnen nachfolgende Bands entscheidend prägte.

Auf diesen 12 Saiten spielt auch Norrin Radd am liebsten. Das heißt: Wenn er nicht gerade sein Kleinstlabel leitet oder versucht seinen Dokumentarfilm über Gram Parsons zu finanzieren oder eine dicke Zigarre raucht. Denn rauchen kann der Mann. Ausschließlich Zigarren. Keine Zigaretten, keine Kräuter, nur bis zu acht Havannas am Tag. Konsequenterweise hat denn auch sein Tabakhändler, „Zigarren Herzog“, in dessen Hinterzimmer Radd schon reichlich blauen Dunst produziert hat, sein aktuelles Album „Monsters and Angels“ gesponsert.

Alkohol allerdings trinkt Radd nicht, er geht nicht mal in Kneipen. Er nennt das „rigide Lebensführung“ und erzählt, dass er eher selten überhaupt rauskommt aus seiner Wohnung. Eigentlich nur beruflich. So geht es Mitte März nach Austin, Texas. Dort wird er auftreten bei der legendären Musikmesse South By Southwest und sein Label Calico vorstellen. Denn Norrin Radd hat sich einen Namen gemacht mit mittlerweile internationalem Klang. Man kennt ihn in der Szene der Gitarrenhalter und Alternativ-Country-Rocker. Dabei ist es gar nicht so lange her, dass Norrin Radd nicht einmal selbst genau wusste, wer er sein wollte.

Denn seine Geschichte ist auch die eines Irrwegs und eines Neuanfangs. „Auch wenn das pathetisch klingt“, sagt Radd, „mir kommt es so vor, als sei mir ein zweites Leben geschenkt worden.“ Schon das erste war unter seinem bürgerlichen Namen Gandulf Hennig recht erfolgreich verlaufen, er fühlte sich „hoch bezahlt und extrem frustriert“. In der Goldgräberzeit des Privatfernsehens war er eher zufällig bei Sat.1 in Berlin gelandet. Dort arbeitete er jahrelang als „Fachmann für Sponsoring und Kooperation“, bis ihm eines Tages auffiel, dass er zu den Privatgesprächen seiner Kollegen nichts beizutragen hatte. Deren Hauptthema: Golf.

„Ich selbst aber wusste mit mir nichts anzufangen.“ Also begann er, sich wieder darauf zu konzentrieren, „was mich immer interessiert hat: die Musik und die Geschichten dahinter“. Schmiss seinen Job und begann vor fünf Jahren einen Film zu recherchieren über Gram Parsons, der als Mastermind der Flying Burrito Brothers und zwischenzeitliches Byrds-Mitglied als Miterfinder dessen gilt, was man heutzutage Americana nennt und ohne den Hennig selbst „nie mit dem Gitarrespielen angefangen hätte“. Bei seinen Recherchen stieß er auf seine eigene Vergangenheit als jugendlicher Möchtegernmusiker im Ruhrgebiet, als Gitarrist und Songschreiber einer Band namens Supreme Machine, die damals an den üblichen Reibereien, an den Erwartungen von Plattenfirmen und Erfolgsdruck gescheitert war. Er stieß nicht zuletzt auf neue Freunde wie Sid Griffin, Mastermind der Paisley-Underground-Legenden Long Ryders und Verfasser einer Parsons-Biografie. Aus Gandulf Hennig wurde so Norrin Radd, benannt nach dem bürgerlichen Alter Ego des Comic-Helden Silver Surfer.

Heute kann man sich mit Radd stundenlang unterhalten über amerikanische Gitarrenbands der 80er-Jahre, wer von den Beat Farmers bereits das Zeitliche gesegnet hat und wie das damals so war bei den Long Ryders im Kölner Luxor. Dabei qualmen die Zigarren und seine Gitarrensammlung lümmelt an der Wand wie stumme Zeugen.

Vor allem der Klang der Rickenbacker, die wie alle Gitarren eine siebenjährige Zeit als Staubfänger überstehen musste, hat es ihm angetan: dieses sehnsüchtige Flirren, das von der Wüste erzählt und der Weite des Westens und all den anderen amerikanischen Klischees, die Bands wie Calexico heutzutage wieder erfolgreich ausbeuten. Dass Radds Stimme zudem an das näselnde Organ von Tom Petty erinnert, stellt ihn in eine Tradition, die er gar nicht verleugnen will. Dass er seine Begleitband aus im Genre einschlägig bewanderten Musikern wie Griffin oder Rosie Flores rekrutieren konnte, hat dafür gesorgt, dass sein Album „vom handwerklichen und technischen Niveau internationalen Standard erreicht hat“. Oder anders gesagt: Solche Platten, „die mit amerikanischen Mythen spielen und bewusst klassisch geschrieben und produziert sind“, kommen üblicherweise aus Tucson, Arizona, vielleicht aus Albuquerque, New Mexico, aber eher selten aus Charlottenburg, Berlin. „Das große Gefühl, dieser klassische Rock“, sagt Radd, „das traut sich außer mir doch niemand in Deutschland.“

So hat Radd zu „Monsters and Angels“ mittlerweile einen zwei Daumen dicken Hefter mit vornehmlich positiven Plattenkritiken aus aller Welt sammeln können und Donovan hat ein Gedicht über seine Musik geschrieben. Längst wird er von einem Musikverlag in Nashville vertreten, zwei seiner Songs sind auf den Soundtracks amerikanischer Filmproduktionen gelandet und selbst seinem „mitten in die Krise der Musikindustrie hinein gegründeten Label“ geht es gut. So setzt das Unternehmen Norrin Radd, Plattenfirma und Filmproduktion, beheimatet in einem ausgebauten Dachgeschoss, immerhin drei Menschen in Lohn und Brot.

Nur ein Detail fehlt noch in der Erfolgsgeschichte: dass sein Film über die Parsons-Legende endlich auch gedreht werden kann. Tatsächlich haben er und sein Partner Griffin vor kurzem die Zusage der Filmstiftung NRW über 55.000 Euro Produktionsvorbereitungsförderung erhalten. Nun kann es zwar noch dauern, bis Gandulf Hennig die Geschichte seines Helden Gram Parsons auf der großen Leinwand wird erzählen dürfen und damit indirekt ja auch die Geschichte von Norrin Radd. Aber wenn das Leben einen Sinn für sinnige Kreisschlüsse hat, und dieses spezielle Leben scheint diesen Sinn zweifellos zu haben, dann wird diese Geschichte vom Glück im zweiten Anlauf demnächst wohl doch noch einen schönen kugelrunden Abschluss finden.