An Pisa denken für neue Lernkultur

Wie Politiker aus der Schülerstudie lernen können, ohne deshalb gleich Wahlen zu verlieren, und wozu Autonomie in den Schulen gut sein kann: Ein Interview mit Karl-Martin Hentschel, Grünen-Fraktionschef im schleswig-holsteinischen Landtag

„Die einzige Chance, die wir haben, um diese Debatte zu gewinnen, sind positive Beispiele“

Interview: KAIJA KUTTER

Mitte Januar forderten die vier grünen Fraktionen im Norden unter dem Motto „9 macht klug“ eine neunjährige Schule nach finnischem Vorbild (taz berichtete), die in einer „neuen Lernkultur die Förderung des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt stellt“. In Niedersachsen, Bremen und in Hamburg sind die Grünen in der Opposition. Dort sind konservative Landesregierungen dabei, das dreigliedrige Schulsystem eher noch zu verschärfen. Nur in Schleswig-Holstein sind die Grünen mit an der Regierung. Die taz befragte Fraktionschef Karl-Martin Hentschel nach Taten.

taz: Schleswig-Holstein ist das einzige Nord-Land, in dem die Grünen mitregieren. Haben Sie schon Schritte in Richtung neunjährige Schule unternommen?

Karl-Martin Hentschel: Zumindest versuchen wir, den Koalitionspartner in diese Richtung zu drängen. Ich habe den Eindruck, dass sich in manchen gesellschaftlichen Kreisen das Denken ändert. Pisa ist angekommen.

Aber 2005 müssen Wahlen gewonnen werden. Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) hat bei ihrer Jahrespressekonferenz erklärt, in den nächsten zwei Jahren werde es kein übergestülptes Gesamtschulsystem geben.

Sie hat aber auch gesagt, wir müssen die Diskussion über die Einheitsschule führen. Das war die eigentliche Botschaft. Die SPD wird sich im März auf ihrem Strategie-Kongress mit dem dreigliedrigen Schulsystem befassen. Pisa hat ganz klar gezeigt, dass keines der zehn Länder, die an der Spitze stehen, eine solche frühe Sortierung der Schüler kennt. Aber dies zu ändern, ist ein langfristiger Prozess.

Ihr grünes „Positionspapier zur Strukturreform“ liest sich schon sehr konkret (siehe Kasten). Sie wollen in der Mittelstufe von Klasse 5 bis Klasse 9 eine „Sekundar I“-Stufe schaffen, in der alle Schüler von Förderschule bis Gymnasium zusammen lernen. Dies könnte Widerstände hervorrufen.

Das stimmt. Es gibt eine starke Lobby von Gymnasialeltern, die hier in der Lage ist, erheblich zu mobilisieren. Die einzige Chance, die wir haben, um diese Debatte zu gewinnen, sind positive Beispiele. Deswegen wollen wir die Autonomie der Schulen erhöhen und Modellschulen nach finnischem Vorbild schaffen. In Kiel gibt es bereits eine erste Initiative dafür.

Also soll es diese Sek.-I-Stufen nicht flächendeckend geben?

Das ginge gar nicht, weil wir den Kultusministerbeschluss von 1993 zur gegenseitigen Anerkennung der Länder von Schulabschlüssen haben. Da wird auch den Gesamtschulen die Aufteilung der Schüler nach Leistungsniveau sehr eng vorgeschrieben. Dieser KMK-Beschluss ist eine enorme Bremse.

Der Schulen nach finnischem Vorbild verbietet?

Das Vehikel, das wir nutzen wollen, ist die Autonomie der Schulen. Wir geben den Schulen den Weg frei, wie sie Schüler zum Erfolg bringen, und lassen die Abschlüsse extern abnehmen. So machen sie das in Finnland auch.

Also könnte so eine autonome Schule in Schleswig-Holstein demnächst für sich entscheiden, alle Schüler gemeinsam zu unterrichten?

Ja, so wie das die Waldorfschulen mit Erfolg seit Jahrzehnten machen. Über eine Experimentierklausel können wir das als Land erlauben. Es muss nur am Ende die Qualität gesichert sein.

Visionen, die auch Ängste wecken. Sie sprechen zum Beispiel von „Erfolg durch Konkurrenz“?

Ja. Aber nicht die Schüler sollen untereinander konkurrieren, sondern die Schulen. Es wird sich ja dann zeigen, welche Schule mit welcher Methode die besseren Abschlüsse hervorbringt. Außerdem basiert unsere Politik auf Freiwilligkeit. So wie wir es jetzt schon in unserem Modell „Geld statt Stellen“ gemacht haben. Die Schulen können sich bis zu zehn Prozent ihrer Stellen in Geld auszahlen lassen, mit dem sie dann Lehrbeauftragte engagieren. Auch die Einstellungen neuer Lehrer können Berufsschulen und Gymnasien in Schleswig-Holstein bereits selbst vornehmen. Da sagen manche Schulen, sie wollen das nicht, andere sind begeistert dabei.

Das mit den Finanzen ist sowieso ein spannender Punkt. Wenn ich mir das finnische System angucke, geben die nicht mehr Geld aus. Sie verteilen es nur anders. Wir machen den Fehler, dass wir fast dreimal so viel für einen Oberstufenschüler ausgeben wie für einen Grundschüler. Wir haben hier zu diesem Schuljahresbeginn bereits umgeschichtet, indem wir die Kursgröße an den Gymnasien von 15 auf 16,5 erhöht und dafür 200 neue Lehrer überwiegend an den Grundschulen eingesetzt haben.

Haben die Grünen eigentlich auch Angst, Wähler zu verlieren?

Im Gegenteil: Ich erlebe auf Veranstaltungen sehr viel Interesse und bei Grünen sogar regelrechte Begeisterung für unser Modell. Endlich mal wieder eine Vision, für die es sich lohnt zu kämpfen, ist der Tenor.