Erste Regierungsumbildung in Brasilien

Präsident Lula koaliert jetzt mit dem bürgerlichen Lager und besitzt nun eine absolute Mehrheit im Parlament

PORTO ALEGRE taz ■ Nach wochenlangem Hin und Her gab Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die erste Kabinettsumbildung seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr bekannt: Sechs Minister wurden entlassen, drei mussten das Ressort wechseln. Die bürgerliche Partei PMDB ist mit zwei Ministern in der Regierung angekommen.

Zu den Geschassten gehören Lulas Parteifreunde José Graziano (Ernährungssicherheit), Benedita da Silva (Sozialhilfe) und Cristovam Buarque (Bildung). Sie werden durch regierungserprobte Profis ersetzt: Der jetzige Bildungsminister Tarso Genro amtierte jahrelang erfolgreich als Bürgermeister von Porto Alegre, das neue „Superministerium“ für Soziales übernimmt Patrus Ananias, ehemals Bürgermeister der Metropole Belo Horizonte. Von ihnen erwartet der Präsident Ergebnisse.

Denn während die Bewertungen über seine orthodox-liberale Wirtschaftspolitik weit auseinander gehen, herrscht in Brasilien über die bislang magere Sozialbilanz weitgehend Einigkeit. Dies ist umso peinlicher für Lula, weil er die Erfolge beim Kampf gegen den Hunger auch international zur entscheidenden Messlatte seiner Politik gemacht hatte. Das viel beschworene Antihungerprogramm „Fome Zero“ beschränkt sich bislang auf die Verteilung von bescheidenen Zuschüssen für arme Familien.

Von den wichtigeren Strukturmaßnahmen in den Bereichen Agrarreform, Wasser- und Abwasserversorgung, Wohnungsbau und Bildung hingegen ist bisher kaum etwas zu sehen. Zudem sind 2003 die Reallöhne um weitere 12,5 Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit hat zugenommen.

Der scharfe Sparkurs der Regierung ist daran nicht unschuldig. Schwer wiegen bürokratische Hemmnisse: Von den möglichen staatlichen Investitionen wurden 2003 gerade 60 Prozent getätigt. Künftig wird sich Lulas starker Mann, Präsidialamtsminister José Dirceu, ausschließlich darum kümmern, dass die Ministerien effektiver funktionieren.

Für den Stillstand gibt es weitere Gründe. Nach der Ablösung von Cristovam Buarque, respektierter Intellektueller und Erfinder des international hoch gelobten Schülerstipendiums Bolsa-Escola, wurde der Presse ein Brief zugespielt, den er am Neujahrstag an den Strategen und Lula-Vertrauten Luiz Gushiken geschrieben hatte.

Darin beklagt Buarque die fehlende Kommunikation innerhalb der Regierung. Selbstkritik sei nötig, um nicht „im Alltagsgeschäft“ und den „Fallstricken der Bürokratie“ gefangen zu bleiben oder sich von Machtpositionen faszinieren zu lassen. Die Wirtschaftsressorts agierten, „als hätten sie nichts mit Sozialpolitik zu tun“. Maßnahmen zur Armutsbekämpfung dürften jedoch nicht vom Wirtschaftswachstum abhängig gemacht werden. Vielmehr müsse eine Kombination von verantwortungsvoller Ausgabenpolitik und sozialem Engagement zum Markenzeichen der Regierung Lula werden, doch solche Fragen würden im Kabinett nicht diskutiert.

Voran kam der Präsident hingegen bei der Festigung seiner parlamentarischen Basis. Mit der Ernennung von zwei Ministern der größten Partei im Parlament, der PMDB, ist die „Elefantenhochzeit“ zwischen den Bürgerlichen und Lulas Arbeiterpartei PT perfekt. Eine Regierungsmehrheit von 70 Prozent der Sitze eröffnet Lula die Möglichkeit zu Verfassungsänderungen.

Der politische Preis ist jedoch hoch: Durch die erweiterte „Links-Mitte-rechts-Allianz“ wird die Umverteilung von Einkommen und Land noch schwieriger. Zugleich wird der Vetternwirtschaft Tür und Tor geöffnet. Parallel zur Kabinettsumbildung verfügte Lula nämlich die Schaffung von 2.800 neuen Stellen im Staatsapparat. GERHARD DILGER